EU-Parlamentschef Martin Schulz weist das Ansinnen der Griechen, Berlin wegen der Nazi-Gräuel moralisch unter Druck zu setzen, zurück. Und ortet in Wien eine "Negativspirale der Nabelschau".

Warum war der Durchbruch in Brüssel so eine schwere Geburt?

MARTIN SCHULZ: Ich bin froh über die Einigung. Ich habe immer gesagt, dass man jeder Regierung ihre Chance geben muss - unabhängig davon, ob man sie politisch mag oder nicht. Tspiras hat es nicht leicht. Er verfügt über keine Regierungserfahrung und wird Premier in einer Phase, wo sein Land vor der größten Herausforderung seiner jüngeren Geschichte steht. Er steht unter ungeheurem Druck, den er teils selbst innenpolitisch erzeugt hat. Deshalb habe ich immer für eine Lösung plädiert, bei der er das Gesicht wahrt und gleichzeitig der Euro stabilisiert wird.

Tsipras verweist selbstbewusst auf das Votum bei der Wahl.

SCHULZ: Ich habe Tspiras das erste Mal vor vier Jahren getroffen. Er hat mir damals gesagt: Wenn wir in voller Souveränität entscheiden, dass wir das Geld nicht mehr zurückzahlen, dann ist das Demokratie. Darauf habe ich ihm geantwortet: Wenn die Deutschen in voller Souveränität entscheiden, nichts mehr zu zahlen, dann ist es auch Demokratie. Die Erkenntnis, dass in einer Währungsunion ein Kernbestandteil der nationalen Souveränität auf die EU-Ebene übertragen worden ist, dass es beim Euro nur noch geteilte Souveränität gibt, gilt für Griechenland genauso wie für Deutschland und Österreich.

Es gibt im linken Lager viel Sympathie für die neue Regierung.

SCHULZ: Ich halte die Regierung für eine merkwürdige Kombination. Wenn in Deutschland die Linke mit der AfD eine Koalition eingeht, hätten Sie viel zu schreiben. So ungefähr wird Griechenland regiert. Das ist eine sehr schräge Koalition, zumal Tsipras Alternativen gehabt hätte.

Athen verweist gern auf die deutsche Verantwortung angesichts der Last der Vergangenheit. Ist das ein legitimes Argument?

SCHULZ: Ich glaube nicht, dass man eine Debatte über den Abbau der griechischen Staatsschulden mit der Debatte um deutsche Reparationszahlungen vermischen sollte.

Die Griechen erhöhen damit den moralischen Druck?

SCHULZ: Ich habe das im griechischen Parlament schon einmal gesagt. Es wird oft so getan, als seien die Deutschen ich weiß nicht was für ein Volk. Von den enormen Milliardensummen, die nach Griechenland fließen, kommt die größte Summe aus Deutschland. Das heißt nicht, dass ich alles richtig finde, was Deutschland macht, aber ich finde auch nicht alles richtig, was in Griechenland an Kritik an den Deutschen geübt wird.

Bis hin zu Karikaturen, wo Schäuble mit Hakenkreuz gezeigt wird?

SCHULZ: Wir müssen damit leben, dass im Extremfall der Versuch unternommen wird, das Bild des bösen Deutschen zu zeichnen. Das hat auch Berlusconi bei mir versucht - und ist damit gescheitert (Anmerkung: Berlusconi hatte Schulz 2003 im EU-Parlament als Nazi-Kapo verhöhnt).

Deutschland spricht aber selbst immer die Vergangenheit im europäischen Kontext an?

SCHULZ: Natürlich stehen wir in einer besonderen Verantwortung. Ich bin ja weiß Gott kein deutscher Nationalist, aber man sollte auch einmal auf den Umstand verweisen, dass die Bundesrepublik das Land ist, das sich am stärksten von allen Ländern mit seiner Vergangenheit befasst hat, dass in unserem Land praktisch jeden Tag über die besondere deutsche Verantwortung geredet wird und wir als Konsequenz der Geschichte den Versuch unternehmen, eine der modernsten und offensten Demokratien in der Welt aufzubauen. Darauf darf man in dem Zusammenhang auch mal verweisen.

Wie groß ist das Risiko, dass der Sieg von Syriza nur der Anfang einer Kettenreaktion ist, die linke und rechte Populisten an die Macht bringt? Ich denke an Podemos in Spanien oder Le Pen in Frankreich.

SCHULZ: Wir haben es mit Parteien zu tun, die für alles einen Sündenbock haben, aber für nichts eine Lösung. Da gelangen Leute an die Macht, die jeden, der eine politische Befugnis hat, verleumden, gleichzeitig aber nicht einen einzigen alternativen Vorschlag haben, der auch nur den Hauch auf Verwirklichung hätte. Was Rechts- und Linkspopulisten gemeinsam den Leuten erzählen, ist, dass man es im nationalstaatlichen Rahmen besser könne. Das ist das Gegenteil von Realität.

Wir haben über Griechenland gesprochen. Es gab auch Paris und Kopenhagen, in der Ukraine erleben wir die Rückkehr des Krieges. Zu allem Überdruss stehen die Barbaren vor Europa, der IS in Libyen. War's das mit der europäischen Unbeschwertheit?

SCHULZ: Mir gefällt ihre Formulierung sehr gut - das Ende der europäischen Unbeschwertheit. Das trifft es präzise. Viele Leute in Europa glauben, dass wir immer an der richtigen Krümmung des Flusses säßen und dass es immer so weiterfließt. Das ist nicht so. Der Fluss ist längst umgelegt, ökonomisch, ökologisch und politisch. Es ist ein langsames Erwachen, dass vor unserer Haustüre die Welt instabiler geworden ist. Was nicht stabil ist, ist die Antwort Europas darauf. Ich hatte in Wien eine interessante Debatte mit einem Mann von der FPÖ . . .

Mit Strache?

SCHULZ: Nein, Hübner. Er warf Europa vor, dass Europa in Sachen NSA oder TTIP nicht auf gleicher Augenhöhe mit den USA verhandelt. Dann habe ich ihn gefragt, ob das ein Versagen Europas ist. Das hat er bejaht. Ich habe gesagt, von der FPÖ hätte ich etwas ganz anderes erwartet. Sie sind doch der Abgeordnete einer Partei, die genau das Gegenteil propagiert, nämlich Brüssel schwächen. Die Maßeinheit, die wir brauchen, ist Europa.

Warum haben die Populisten Hochkonjunktur?

SCHULZ: Es gibt das tiefe Bedürfnis nach dem Schrebergarten, nach der gemütlich, vorgeblich heilen Welt des Nationalen, sogar des Regionalen. Sie haben völlig recht, die Zeit der Unbeschwertheit ist vorbei.

Was läuft schief?

SCHULZ: Die Populisten haben Konjunktur, weil Europa sein Versprechen für mehr Jobs, mehr Sicherheit, für mehr sozialen Zusammenhalt nicht gehalten hat. Warum wird es nicht gehalten? Weil wir keine klaren Strukturen haben. Deshalb plädiere ich für eine präzise Kompetenzordnung.

Was heißt das konkret?

SCHULZ. Wasser ist eine umkämpfte Ressource, also müssen wir den Wasserverbrauch reduzieren. Wenn wir das wollen, brauchen wir weltweite Standards. Darauf aufbauend müssen sich die Europäer zu bestimmten Zielvorgaben verpflichten. Dann habe ich zwei Möglichkeiten: Ich mache das durch die Normierung von Duschköpfen. Da sagen die Leute "Die haben sie nicht mehr alle", und das sagen sie zu Recht. Oder ich sage: Das Wassermanagement im Burgenland ist sicher etwas, was die Burgenländer genau kennen - gemäß dem alten Leitspruch: Global denken, lokal handeln.

Sie sind von der Regierung ausgezeichnet worden, deshalb werden Sie nichts Kritisches über Österreich sagen. Dennoch hat man den Eindruck, dass sich Österreich zu wenig in Brüssel einbringt?

SCHULZ: Das ist eine typisch österreichische Debatte, die ich sonst nirgendwo erlebe. Die Österreicher bringen sich engagiert in Brüssel ein. Ich habe bei der Verleihung Kanzler Schüssel gelobt. Ich gehörte zu denen, die sich tierisch aufgeregt haben über die Schüssel-Haider-Koalition, aber ich muss auch hier bekennen, dass wir die Finanzperspektive 2006 bis 2013 mit Schüssel unter Dach und Fach gebracht haben. Das war eine Glanzleistung. Werner Faymann gehört zu den aktivsten Regierungschefs in Brüssel mit einer sehr vermittelnden Art. Ich erlebe Österreich als ein Land, das zu Hause ständig in so einer Negativspirale der Nabelschau steht. Dabei hat das Land außerhalb seiner Landesgrenzen ein hohes Renommee.

INTERVIEW: MICHAEL JUNGWIRTH