Die Tunesier hatten fast vier Jahre nach dem Sturz des langjährigen Machthabers Zine El Abidine Ben Ali die Wahl zwischen dem 88-jährigen Politikveteranen Essebsi und dem Übergangspräsidenten und Menschenrechtler Marzouki. Hochrechnungen zufolge fuhr Essebsi mit einem Ergebnis zwischen 52,8 und 55,5 Prozent einen knappen Sieg ein. Er hatte seinen Konkurrenten bereits im ersten Wahlgang vor einem Monat auf den zweiten Platz verwiesen, ohne dabei aber die nötige absolute Mehrheit zu erreichen.

Der 88-Jährige erklärte bereits unmittelbar nach Schließung der Wahllokale vor 2.000 Anhängern in der Hauptstadt Tunis, er habe die Wahl gewonnen. Er dankte seinen Wählern und würdigte seinen Gegner Marzouki. "Tunesien braucht alle seine Kinder", sagte er. Die beiden Politiker gelten als Erzfeinde. Marzouki sagte, er werde Essebsis Äußerungen nicht kommentieren. Es gebe allerdings Hinweise, dass er selbst vorne liege.

Essebsi gehört der antiislamistischen und neoliberal ausgerichteten Partei Nidaa Tounes an, die als stärkste Kraft aus der Parlamentswahl im Oktober hervorging. Sie gilt als Sammelbecken der alten Staatselite um Ben Ali. Der 69 Jahre alte Marzouki ist der Kandidat des sozialdemokratischen Kongresses für die Republik (CPR) an. Der Bürgerrechtler war Anfang 2012 mit Unterstützung der islamistischen Partei Ennahda zum Übergangspräsidenten gewählt worden. Wegen seiner Annäherung an die Islamisten, geriet Marzouki zuletzt in die Kritik von säkularen Tunesiern.

Das amtliche Ergebnis der Stichwahl soll am Montagabend um 20.00 Uhr (Ortszeit und MEZ) vorliegen. Zu der Abstimmung waren 5,3 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen. Die Beteiligung lag nach Angaben der Wahlkommission bei 59 Prozent. Es war die erste freie Wahl eines Staatschefs seit der Unabhängigkeit Tunesiens von Frankreich im Jahr 1956. Sie soll den demokratischen Übergangsprozess in dem nordafrikanischen Land vollenden.

In Tunesien hatte im Dezember 2010 der Arabische Frühling seinen Anfang genommen. Der Volksaufstand führte im Jänner 2011 zum Sturz von Ben Ali. Frankreichs Außenminister Laurent Fabius würdigte die Präsidentschaftswahl am Montag als "Meilenstein". Der erfolgreiche Ablauf des Urnengangs bestätige Tunesiens "historische Rolle".

Marzouki hatte sich im Wahlkampf als Verteidiger der "Revolution" vom Frühjahr 2011 präsentiert. Essebsi warf er vor, das alte Regime wiederherstellen zu wollen. Zudem kritisierte er das hohe Alter seines Kontrahenten, der bereits unter Staatsgründer Habib Bourguiba diente. Essebsi wiederum beschuldigte Marzouki, ein "Extremist" und Vertreter der Islamisten zu sein, die das Land seit 2011 heruntergewirtschaftet hätten.

Zehntausende Soldaten und Polizisten waren im Einsatz, um die Wahl abzusichern, nachdem Jihadisten mit Anschlägen gedroht hatten. In der Region von Kairouan gab es in der Nacht zum Sonntag einen Angriff auf eine Schule, in der Wahlunterlagen gelagert wurden. Dabei wurden laut dem Verteidigungsministerium ein Angreifer getötet und drei Männer festgenommen. Das Ministerium ging aber nicht von einem dschihadistischen Hintergrund aus.