Herr Karahasan, das Jahr neigt sich dem Ende zu. Es war ein bewegtes Jahr für Bosnien und für die Welt, ein Jahr auch der Erinnerung an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren. Wie lassen Sie es ausklingen?
DZEVAD KARAHASAN: In Sarajevo, meiner Heimatstadt. Wie alle Jahre habe ich auch heuer am Heiligen Abend die Christmette in der Antoniuskirche im Stadtviertel Bistrik besucht, am Christtag war ich dann bei meinen Freunden, den Franziskanern. Die Tage bis Jahresende bin ich mit meinen Studenten und unterrichte.

Ein gläubiger Muslim in der Christmette. Wie kommt das?
KARAHASAN: Das ist Sarajevo! Es gibt eine Unzahl orientalischer Städte, die prachtvoller und spektakulärer sind als Sarajevo. Auch gibt es viele mitteleuropäische Städte, die größer, schöner und bedeutender sind. Aber es gibt keine Stadt in der Welt, in der Orient und Okzident so nahtlos ineinanderfließen. So auch im Alltag. Nirgendwo sonst haben Muslime, Christen und Juden eine so unmittelbare Erfahrung von der Religion des jeweils anderen und können dessen Glauben so konkret mitleben wie in Sarajevo. Ich bin nicht weniger Muslim, wenn ich jedes Jahr mit meinen katholischen Freunden die Freude ihrer Feiertage teile.

Hat der Krieg dieses einzigartige Miteinander nicht zerstört?
KARAHASAN: Natürlich ist nichts mehr wie früher. Die Kriminellen, die von 1992 bis 1995 den Krieg in Bosnien angezettelt haben, wollten uns einreden, dass Muslime, Katholiken und Orthodoxe natürliche Feinde seien. Gott sei Dank hat das nicht funktioniert. Immer noch leben die Leute gut zusammen, sie sprechen miteinander und helfen einander. Immer noch sind viele Bosnier überzeugt, dass die tägliche Begegnung mit Andersgläubigen und Andersdenkenden für ihre eigene Identität wichtig ist, da sie ihnen helfen, sich selber besser zu verstehen. Der Kern des alten Bosnien hat überlebt. Der Krieg hat nicht gesiegt.

Sie glauben, dass der Bosnienkrieg der traurige Endpunkt eines Verhängnisses war, das mit den Schüssen von Sarajevo vor 100 Jahren seinen Anfang nahm.
KARAHASAN: Mehr als das. Ich behaupte sogar, dass sich das kurze 20. Jahrhundert zwischen zwei Brücken von Sarajevo abgespielt hat. Begonnen hat es an der Lateinerbrücke, wo am 28. Juni 1914 Franz Ferdinand und seine Frau Sophie vom jugendlichen Attentäter Gavrilo Princip erschossen wurden. Und geendet hat das Jahrhundert am 6. April 1992 auf der Vrbanjabrücke, wo Suada Dilberovic und Olga Sucic von Heckenschützen erschossen wurden. Die Mädchen hatten für den Frieden demonstriert. Wenige Tage später ging der Krieg los.

Wie präsent ist 1914 heute noch im Gedächtnis der Stadt?
KARAHASAN: Sehr präsent. Bis 1914 war die panslawische Bewegung sehr stark in der Stadt. Mit den Habsburgern hatten wir Südslawen ein Anderes, Fremdes als Abgrenzung, zu dem wir uns als Slawen fühlen konnten. Die religiösen und ethnischen Unterschiede zwischen uns waren sekundär. Als uns nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Ende der Donaumonarchie dann aber der – wie ich zu sagen pflege – gemeinsame liebe Feind abhandenkam, haben wir plötzlich begriffen, dass wir keine Südslawen allgemein sind, sondern Kroaten, Serben, Mazedonier, Montenegriner, Slowenen und Bosniaken. Plötzlich wurden die Unterschiede auf Kosten des Gemeinsamen stark betont, und das dauert bis heute an. Das Unvermögen, eine Balance zu schaffen zwischen dem, was die südslawischen Völker unterscheidet, und dem, was sie verbindet, hat letztlich auch Jugoslawien zerstört.

War das auch der Grund dafür, dass es in Sarajevo kein gemeinsames Gedenken an 1914 gab?
KARAHASAN: Genau deshalb hat man im Juni zwei Gedenkfeiern veranstaltet. Die eine im überwiegend von Serben bewohnten Ostteil der Stadt, wo Princip als Held gefeiert wurde. Und die andere in der Altstadt, wo man der Ermordung des Thronfolgerpaars gedachte. Eine gemeinsame Feier war unmöglich, weil wir bis heute nicht imstande sind, die historische Wirklichkeit in all ihrer Komplexität zu begreifen.

Und nirgendwo zeigt sich das klarer als an Gavrilo Princip.
KARAHASAN: War er ein Held, wie die einen sagen? Zweifelsohne. Ein Held ist ein Mensch, der imstande ist, seine ganze Existenz für ein Ideal aufzuopfern. Aber nicht alle Heldentaten sind gut für das Wohl der Gemeinschaft. König Ödipus hat die Pest über Theben gebracht. Und die Serben haben Princips Heldentat teuer bezahlt. Ein Drittel der Bevölkerung des Landes ist im Ersten Weltkrieg ums Leben gekommen. War Princip ein Mörder, wie die anderen behaupten? Zweifelsohne! War er ein verführtes, betrogenes Kind? Zweifelsohne! All das stimmt! Verstehen Sie?

Ja, die entscheidende Frage ist, ob sich die konträren Erzählungen miteinander versöhnen lassen.
KARAHASAN: Absolut! Wieso kommen Franzosen und Deutsche so gut miteinander aus? Warum funktioniert das Zusammenleben von Christen, Juden und Muslimen in Europa ohne wirkliche große Probleme? Und das, obwohl es die Kreuzzüge gab? Auch gegensätzliche historische Narrative können friedlich nebeneinanderstehen, sobald wir begreifen, dass die Wirklichkeit mehrere Dimensionen hat. Eindimensionale Bewertungen funktionieren nur in der digitalen Welt und in der Arithmetik. Beide sind eindimensional, sind konstruierte Pseudowelten. Wo es dagegen Körper, Emotionen und mehrere Dimensionen gibt, sind eindeutige Bewertungen unmöglich.

Wenn Sie Bilanz ziehen, was hat das Gedenkjahr 2014 gebracht?
KARAHASAN: Über eine Million Menschen sind nach Sarajevo gekommen und es gab ein paar recht gute Kulturveranstaltungen. Zugleich hat der Streit um die Bewertung des Attentats vom 28. Juni 1914 der Welt vor Augen geführt, wie sehr Bosnien und der ganze Balkan bis heute unter chauvinistischer Rhetorik und kriminellen Machenschaften leiden. 2014 hätte den Völkern des ehemaligen Jugoslawien die einmalige Chance geboten, endlich vernünftig und nuanciert über unsere Vergangenheit nachzudenken. Ich habe mich verzweifelt danach gesehnt, dass wir die einseitigen ideologischen Modelle beiseiteschieben und gemeinsam versuchen, unsere Geschichte zu begreifen. Aber diese Chance wurde kläglich verpasst!

Gilt das auch für Europa?
KARAHASAN: Leider. Mein Eindruck ist, dass die exzessive Art und Weise, wie man in Europa der Ereignisse von 1914 gedachte, eine Gegenwartsflucht war. Denn die geistige Stimmung, die heute in Europa herrscht, ist jener von 1914 nicht unähnlich. Diese Kriegsgeilheit, diese abstrakte Auffassung von Krieg als Party und Spektakel, das alles erinnert mich stark an die Atmosphäre von damals. Als Angela Merkel im Jahr 2012 Deutschland nicht am Zerbomben Libyens beteiligen wollte, wurde sie von Intellektuellen und Journalisten geradezu beschimpft. Auch die Versuche, die Europäische Union gegen Russland aufzubauen, deuten darauf hin, dass wir den Anderen immer mehr als Feind ansehen und nicht als Gesprächspartner.

Und doch war es wichtig, an das Jahr 1914 zu erinnern?
KARAHASAN: Das war es. Das Jetzt ist immer ein Kind der Vergangenheit, die nicht vergeht. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns einholt. Mehr als alles andere ist der Mensch ein Wesen der Zeit. Das Europa von heute ist das Europa, das im Ersten Weltkrieg entstand. Um es besser zu verstehen, müssen wir das Gestern immer wieder zur Sprache bringen.

Haben Sie sich je gefragt, was gewesen wäre, wenn die Schüsse von Sarajevo nie gefallen wären?
KARAHASAN: Das habe ich. Unzählige Male. Ich habe mich gefragt, ob die Geschichte wirklich der notwendige Wille Gottes ist oder das Produkt von uns Menschen. Wäre Letzteres der Fall und wären die Schüsse von Sarajevo nie gefallen, hätte es vielleicht schon 1920 eine Europäische Union gegeben. Aber leider ist es anders gekommen. Schade, einfach schade. Letztlich ist die EU nichts anderes als der Versuch, das nachzuholen, was der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert uns genommen haben, ein staatliches Gebilde wie die Habsburgermonarchie, ein demokratisches Imperium, in dem die Nationen und Religionsgemeinschaften friedlich zusammenleben. Ein wunderbarer Traum ist das, und ich hoffe, dass er für alle Europäer in Erfüllung geht.

INTERVIEW: STEFAN WINKLER