"Der Palast des Königs von Lo (Mustang) ist von allen Seiten von einer Girlande weißer Felsberge umgeben, von denen ein nie versiegender Quell von Wasser herabstürzt, rein und klar wie ein Kristall. Von Zeit zu Zeit sprießen alle zum Leben notwendigen Dinge hervor, wie die Blätter und Früchte in den Tälern, die sich nach allen Richtungen hin erstrecken."
So hat der in Lo geborene große Gelehrte Jonang Kunga Drolchog im 16. Jahrhundert seine Heimat beschrieben. Was in den poetischen Worten wie ein Garten Eden anmutet, ist in Wirklichkeit eher ein steinerner Garten, dem die Menschen durch harte Arbeit ihre Existenz abringen. Denn Mustang – der Begriff ist eine westliche Verballhornung des tibetischen Namens Mönthang – ist eine karge Gebirgswüste im trockenen Windschatten der Himalayariesen Annapurna und Dhaulagiri.

Die fruchtbaren Stellen sind nie mehr als Inseln, Oasen inmitten einer von Unfruchtbarkeit und in hohen Lagen von Gletschern bestimmten Gebirgswelt. Das kleine ehemalige Königreich ist das Geschenk des Kali Gandaki. Der Fluss bereitet den Weg, für sich selbst und für die Menschen, die seit urerdenklichen Zeiten seinem Lauf folgen. Der Fluss spendet Wasser und damit Leben und er hat die Landschaft geformt wie ein Kunsthandwerker, der aus einem Rohstein ein edles Schmuckstück modelliert.

Ein Glücksfall

Mustang ist ein Stück Tibet, das zu Nepal gehört. Ein Glücksfall, denn damit blieb es von der Zerstörungswut rotchinesischer Bilderstürmer verschont. Doch erst Anfang der 90er-Jahre öffnete Nepal die Tür zu dieser Schatzkammer. Ich war einer der ersten westlichen Ausländer, die unter strengen Auflagen und einer hohen Eintrittsgebühr ins Land durften. Die Erwartungen waren groß, als ich im Sommer 1992 mit einer kleinen Gruppe von Gefährten entlang der Kali-Gandaki-Schlucht nordwärts marschierte. Staunend betraten wir eine Landschaft, die einer seltsamen Laune der Natur entsprungen schien. Die enormen Kräfte der Erosion, Wind und Wasser, haben hier Formen geschaffen, die keine menschliche Fantasie ersinnen könnte. Ganze Wände aus Konglomerat waren zu gigantischen Orgelpfeifen strukturiert und von künstlichen Höhlen durchsiebt. Jeder Stein atmete Geschichte. Dzongs – Wehrburgen – säumten den Weg. Chörten, aus Lehm geformte Symbole für den Buddhageist, gemahnten den Vorbeikommenden an den wichtigsten aller Wege; an den, der zur Erleuchtung führt.

Lopa-Frau mit traditionellem Kopfschmuck aus Türkisen und Korallen
Lopa-Frau mit traditionellem Kopfschmuck aus Türkisen und Korallen © Bruno Baumann


In Dörfern, die wie Nester in die Gebirgsfalten eingesprenkelt lagen, gab es altehrwürdige Klöster mit erlesenen Wandbildern und Figuren ausgestattet. Dann Lo Manthang, die Residenz des Königs, das Abbild einer mittelalterlichen Stadt. Doch Mustang war kein „Shangri-La“, kein Paradies auf Erden. Es gab keine Schule, keinen Arzt, ja nicht einmal eine Apotheke. Die Menschen waren Krankheiten hilflos ausgeliefert. Heute, mehr als zwei Jahrzehnte später, gibt es eine befahrbare Piste nach Lo Manthang. Zuvor sind alle Einnahmen aus dem Tourismus nach Kathmandu geflossen. Nun betreiben die Lopa kleine Gästehäuser, Restaurants und Souvenirläden entlang der Route und können somit am Fremdenverkehr partizipieren. Vom Verfall bedrohte Heiligtümer wurden restauriert und Forscher haben in den Höhlen Spuren früher Besiedelung gefunden und dabei zufällig ein Alleinstellungsmerkmal der Kultur Mustangs entdeckt.
Ein Geheimnis

n Kagbeni verlässt man die touristische Infrastruktur der Annapurna-Region
n Kagbeni verlässt man die touristische Infrastruktur der Annapurna-Region © Bruno Baumann


Die Felswüste von Mustang beherbergt einzigartige Juwelen, sogenannte Kabum-Chörten. Das sind buddhistische Reliquienschreine, kunstvoll bemalt, versteckt in exponierten Höhlen, deren Lage von den Einheimischen als Geheimnis gehütet wird. Fünfundzwanzig solcher Heiligtümer soll es der Überlieferung zufolge geben, vier davon sind bisher bekannt. Ein weiterer, so erfuhr ich kürzlich, soll sich unmittelbar an der Grenze Tibets befinden. Genau das ist der Grund, warum ich mit fliegendem Atem versuche, mit Dolkar Schritt zu halten. Die mehrfache Mutter läuft leichtfüßig bergauf, als würden für sie weder die Gesetze der Höhe noch die der Schwerkraft gelten, und nebenher erzählt sie mir die unglaublichsten Geschichten. „Das ist unser wunscherfüllender Zauberberg“, sagt sie und deutet dabei auf einen von unzähligen Nischen und Grotten durchlöcherten Bergkegel. Ein blutroter Bergrücken, an dem wir vorbeikommen, sei der Überrest eines mächtigen Dämons, den Padmasambhava, der große buddhistische Missionar des Himalaya, einst überwunden und in Stücke gerissen hätte.

Bäuerin aus Sam Dzong auf ihrem vertrockneten Feld
Bäuerin aus Sam Dzong auf ihrem vertrockneten Feld © Bruno Baumann

Endlich stehen wir auf dem Pass oben. Die Aussicht ist berauschend. Im Süden erhebt sich der Himalaya-Hauptkamm wie eine in den Himmel geschriebene Grenze. Unter uns das tief eingekerbte Flussbett des Kali Gandaki. Nur der Blick nach vorn ist eine Niederlage. Es folgt ein weiterer Pass. Ich habe das Gefühl, dem Ende der Welt zuzusteuern. In Mustang heißt es Sam Dzong. Das kleine Dorf an der Grenze zu Tibet wird von einem Dämon heimgesucht, den man erst aus jüngster Zeit kennt: Klimawandel. Er lässt Gletscher abschmelzen und Bäche versiegen. Ein kupferfarbenes Rinnsal kommt uns entgegen, als wir uns dem Dorf nähern.

Die Götter

An eine Felsflanke drücken sich weiß gekalkte Häuserwürfel, umgeben von vertrockneten Feldern. Die ehemalige Königsfamilie hat den Bewohnern Land unten am Fluss zur Verfügung gestellt, damit das ganze Dorf umziehen kann. Doch vor allem die Alten wollen nicht weg. Und der Kabum-Chörten? „Hier gibt es keinen“, lautet die Antwort. Doch kaum habe ich das Dorf verlassen, kommt mir einer meiner Begleiter hinterhergelaufen. Er wisse, wo sich das Heiligtum befindet. Dorfbewohner hätten es ihm offenbart. Ich lehne dankend ab. Gut zu wissen, dass auch die Götter das Dorf nicht verlassen haben, noch nicht.