Chinas Wirtschaft schwächelt, und sofort schrillen weltweit an den Börsen die Alarmglocken: Gerät etwa der Wachstumsmotor für die ohnehin maue globale Wirtschaft ins Stottern? Steuert die Regierung in Peking rasch genug gegen? Die Angst greift um sich, Anleger halten den Atem an, und die Chinesen selbst - fahren einfach in den Urlaub.

Fast 39 Millionen Bürger der Volksrepublik haben sich völlig unbeeindruckt von diesem Trubel alleine in der ersten Jahreshälfte aufgemacht, die Welt zu erkunden, sich in Wellness-Tempeln auf Bali verwöhnen zu lassen, in Dubai oder Paris shoppen zu gehen oder die Olympischen Spiele in London zu besuchen. Das waren gut doppelt so viele wie noch vor fünf Jahren. Angesichts dieser Zahlen fragen sich Fachleute, ob sich in China schneller als gedacht eine kauffreudige Mittelschicht aufbaut, die sich vielleicht sogar bald zu einer Stütze der Wirtschaft mausern könnte.

Während sich das Wachstum des Schwellenlandes das sechste Quartal in Folge verlangsamte - auf das schwächste Tempo seit nunmehr drei Jahren - wächst der Konsum kontinuierlich im zweistelligen Bereich. Begünstigen dürfte dies auch der Rückgang der Inflation, die im Juli auf den tiefsten Stand seit 30 Monaten fiel. Das Reiseverhalten der Chinesen spreche eine andere Sprache als die jüngsten Daten der Gesamtwirtschaft, sagt Mintel-Marktstratege Paul French. Den gesündesten Blick auf die Konjunktur habe ohnehin der Verbraucher. "Wenn sich die Verbraucher gut fühlen, geben sie Geld aus. Wenn sie sich nicht gut fühlen, hören sie damit auf."

56 neue Flughäfen in Planung

Der Internationale Luftfahrt-Branchenverband IATA diagnostiziert angesichts der Reisefreude bereits ein gewaltiges Geschäftspotenzial. Sollte das durchschnittliche Jahreseinkommen in China 15.000 Dollar erreichen (12.000 Euro.), ist innerhalb von zehn Jahren mit einer Milliarde Flugpassagiere zusätzlich zu rechnen, sagt IATA-Generaldirektor Tony Tyler. Zur Vorbereitung seien bis Ende 2016 bereits 56 neue Flughäfen in Planung, 91 weitere sollen ausgebaut werden. Von den knapp 8 Mrd. Dollar Gewinn der Branche im vergangenen Jahr machten die chinesischen Fluggesellschaften etwa die Hälfte. Die in Genf ansässige Digital Luxury Group schätzt das Volumen des chinesischen Reisemarktes inzwischen auf 232 Mrd. Dollar.

Die 1,3 Milliarden starke Bevölkerung Chinas hätte also durchaus das Potenzial, die Wirtschaft des Landes unabhängiger vom Export zu machen. Obwohl auch Lohnsteigerungen im zweistelligen Prozentbereich große Hoffnungen dieser Art schüren, warnen einige Experten jedoch vor zu viel Euphorie. Der durchschnittliche Jahreslohn in staatlich kontrollierten Unternehmen - sie machen den Löwenanteil der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt aus - betrug zuletzt 6.700 Dollar (42.452 Yuan). Nur etwas mehr als die Hälfte davon verdienten Angestellte im privaten Sektor. Zum Vergleich: Ein US-Bürger erhielt im Durchschnitt knapp 40.000 Dollar - deshalb basieren auch etwa zwei Drittel der US-Wirtschaft auf dem Konsum.

An diesem Punkt ist China noch lange nicht angekommen, sagt Yolanda Fernandez Lommen, Chefin der Wirtschaftsabteilung der Asiatischen Entwicklungsbank in China. Etwa zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung müsste ein wirkliches Konsumverhalten an den Tag legen, um sich als Wachstumstreiber zu erweisen, sagt sie. Davon sei die Volksrepublik allerdings noch weit entfernt. "Bei Wirtschaften, die von Konsum angetrieben werden, macht die Mittelschicht sogar 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung aus."

Skeptiker erinnern zudem daran, wie weit in China die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht. Offiziellen Angaben zufolge leben 51 Prozent der Chinesen in Städten. Darunter sind aber auch 230 Millionen Wanderarbeiter, die für wenig Geld arbeiten und entsprechend wenig ausgeben. Nur umfassende Strukturreformen könnten deren Situation durchgreifend verbessern und sie so langfristig in echte Konsumenten verwandeln, sagt Lommen.