Herr Gartlehner, Sie leiten das Cochrane-Institut in Österreich. Dieses internationale Netzwerk steht für unabhängiges Wissen. Was tut Cochrane?

GERALD GARTLEHNER: Cochrane ist ein Zusammenschluss von Ärzten, Wissenschaftlern und Konsumenten, mit dem Ziel, die Gesundheitsversorgung durch sauberes, objektives Wissen zu verbessern. Derzeit gibt es weltweit 32.000 Menschen, die bei Cochrane mitarbeiten, die meisten machen das unentgeltlich. Unsere Arbeit muss immer ohne Geld aus der Industrie ablaufen, denn nur so kann unabhängiges Wissen entstehen.

Warum braucht es so ein Netzwerk? Ist der Wissenschaft nicht zu trauen?

GARTLEHNER: In jedem Gesundheitssystem ist viel Geld im Umlauf – und die Versuchung ist groß, viel Geld damit zu verdienen. Pharmaunternehmen sind profitorientiert und Werbung spielt eine enorm wichtige Rolle. Dazu braucht es ein Gegengewicht. Viele Länder haben erkannt, wie wichtig dieses unabhängige Wissen ist: Norwegen zum Beispiel finanziert 30 Millionen Euro in ein unabhängiges Zentrum, das Wissen für die Bevölkerung aufzubereiten. Davon sind wir in Österreich noch sehr weit entfernt.

Gerald Gartlehner, Cochrane-Institut Österreich
Gerald Gartlehner, Cochrane-Institut Österreich © kk

Wie entstehen die sogenannten Cochrane-Berichte?

GARTLEHNER: Man beginnt mit einer Fragestellung: Dazu versucht man, die Gesamtheit aller wissenschaftlichen Studien zu finden und zusammenzufassen. Das Problem dabei: 50 Prozent der Studien, die durchgeführt werden, werden gar nicht veröffentlicht.

Warum nicht?

GARTLEHNER: Weil sie nicht das zeigen, was die Auftraggeber zeigen wollten. Diese Studien sind dann auch schwer zu finden.

Was ist das Ergebnis einer solchen Fragestellung?

GARTLEHNER: Wir arbeiten ein bis zwei Jahre an einem sogenannten Cochrane-Review. Bei der anfänglichen Suche findet man vielleicht 5000 Studien, diese werden von zwei Wissenschaftlern unabhängig voneinander gelesen, beurteilt und ausgesiebt. Es bleiben vielleicht 20 Studien übrig, die wir uns sehr genau anschauen, ob sie korrekt durchgeführt wurden. Übrig bleiben jene, von denen wir glauben, dass sie gut gemacht sind – und daraus lassen sich die besten Schlüsse ziehen. Was übrig bleibt, soll das beste verfügbare Wissen sein.

Warum braucht es diesen Sortierungsprozess?

GARTLEHNER: Jedes Jahr werden zwei Millionen medizinische Artikel publiziert. Ohne diese Übersichtsarbeiten hat man eigentlich keine Chance mehr, das verfügbare Wissen zu managen. Man müsste 500 Studien pro Woche lesen, um am neuesten Stand der Forschung zu bleiben. Das ist für den einzelnen unmöglich.

Warum ist nicht jede Studie eine gute Studie?

GARTLEHNER: Es gibt enorme Unterschiede und oft ist das, was als Studie bezeichnet wird gar keine. Ein Beispiel ist eine vermeintliche Pille gegen Liebeskummer, die damit beworben wird, dass eine Studie zeigt, dass sie wirkt. Wir haben uns diese Studie angeschaut: Dabei hat man 15 Frauen, die Liebeskummer hatten, sechs Wochen lang die Pille gegeben und nach sechs Wochen ist es ihnen besser gegangen. Davon kann man natürlich nichts ableiten, denn auch ohne die Pille wäre es den Frauen nach sechs Wochen besser gegangen.

An welchen Qualitätskriterien kann man sich orientieren?

GARTLEHNER: Das wichtigste ist, dass es eine Kontrollgruppe gibt. Wir möchten wissen, ob etwas besser wirkt als ein Placebo, zum Beispiel. Denn auch wenn Medikamente nicht wirken, haben sie fast immer Nebenwirkungen. Ein weiterer Faktor ist, dass eine große Personenzahl eingeschlossen sein sollte, kleine Studien haben nur wenig Aussagekraft.

Welche Interessen können denn mit Studien bedient werden?

GARTLEHNER: Wir wissen, dass Studien, die von der Pharma-Industrie finanziert werden, ein positiveres Ergebnis zeigen, als die, die nicht so bezahlt wurde. Das zeigt die Verantwortung der öffentlichen Hand, Studien zu finanzieren. Doch in Österreich sieht es da sehr traurig aus.

Sie sagen, für den einzelnen Arzt ist es unmöglich, immer am Stand der Forschung zu sein. Wer ist dann überhaupt der richtige Ansprechpartner in Gesundheitsfragen?

GARTLEHNER: Es gibt fantastische Ärzte, die versuchen, evidenzbasiert zu arbeiten und sich an Leitlinien halten. Aber es gibt leider immer noch Ärzte, die das nicht tun. Für den Laien ist es schwer, das zu erkennen. Man sollte einfach nachfragen: Gibt es Studien dazu? Oder was passiert, wenn ich nichts tue? Ist die Therapie überhaupt notwendig? Man muss immer Nutzen und Risiken abwägen.

Viele Patienten überlassen Entscheidungen, die ihre Gesundheit betreffen aber lieber dem Arzt.

GARTLEHNER: Ja, 50 Prozent wollen diese Fragen dem Arzt überlassen, aber die anderen 50 Prozent wollen mitreden! Denen muss man Fakten präsentieren. Doch diese Patienteninformation gibt es in Österreich auch kaum.

Was muss sich in Österreich ändern, um der evidenzbasierten Medizin mehr zu entsprechen?

GARTLEHNER: Österreich ist in der Medizin sehr hierarchisch. Wir würden uns wünschen, dass die Bevölkerung mehr Druck ausübt. Dass man als Patient die Ärzte ruhig herausfordert und fragt, ob die Therapie wirklich Sinn macht, ob es Studien gibt, die das belegen. Der Großteil der Patienten glaubt, dass sie nach dem letzten Stand der Wissenschaft behandelt werden – aber das ist oft nicht der Fall.