Autismus hat kein einheitliches Erscheinungsbild, sondern beschreibt ein ganzes Spektrum von Symptomen. Wie weit erstreckt sich dieses Spektrum?
GUDRUN SCHEIN: Es reicht von schwerstbehindert bis hochbegabt, von gar keiner Sprache bis zu sehr elaborierter Sprache und es gibt fließende Übergänge zur Normalität. Diese Breite ist eines der Probleme: Viele Menschen bekommen dadurch lange keine adäquate Behandlung.

Was haben diese Erscheinungsbilder gemein?
SCHEIN: Allen gemeinsam sind große Schwierigkeiten mit sozialen Interaktionen. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, fehlt. Es gibt auch Schwierigkeiten mit der Kommunikation: Menschen mit Autismus neigen dazu, Monologe zu führen, nicht auf das Gegenüber einzugehen und sich nur über für sie interessante Dinge zu unterhalten.

Weiß man, was die Ursache für autistische Erkrankungen ist?
SCHEIN: Man nimmt an, dass Autismus genetische Ursachen hat. Man weiß auch, dass Informationen anders verarbeitet werden. Das führt dazu, dass Betroffene sehr spezielle Interessen entwickeln und damit die Welt kleiner machen, um sich besser zurechtzufinden.

Auch die Fähigkeit, Reize zu filtern, fehlt. Es kommt zu einer ständigen Reizüberflutung. Wie kann man sich das vorstellen?
SCHEIN: Wenn wir in einem Kaffeehaus sitzen, wird Kaffee heruntergelassen, am Nachbartisch wird gesprochen, die Tür geht auf – wir sind trotzdem in der Lage, uns auf unser Gegenüber zu konzentrieren und den Rest wegzufiltern. Genau das funktioniert bei Autisten nicht. Es werden für den Zusammenhang unwichtige Reize ausgewählt, an denen sich die Betroffenen orientieren. Zum Beispiel wird nicht das Gesicht wahrgenommen, sondern die Brille oder die Schuhe. Wenn aber jemand die Brille wechselt, ist er nicht mehr derselbe Mensch. Das führt zu großen Schwierigkeiten.

Menschen mit Autismus werden spezielle Fähigkeiten zugeschrieben, man spricht von Inselbegabungen – trifft das auf alle zu?
SCHEIN: Wenn wir uns sehr intensiv mit einem kleinen Ausschnitt der Welt beschäftigen, werden wir in diesem Bereich sehr gut. Auch sind Menschen mit Wahrnehmungsstörungen sehr genau, sie finden einen Fehler in 100 Seiten. Spezialbegabungen werden spektakulär über Medien transportiert – aber das ist nur ein kleiner Teil der Betroffenen.

Woran kann man eine autistische Erkrankung erkennen?
SCHEIN: Die ersten Hinweise ergeben sich bereits sehr früh. Die Kinder versinken in ihrer Welt und beschäftigen sich lieber mit Objekten als mit Menschen. Auch das Spielverhalten ist anders. Während andere Kinder ihre Puppe tragen und zum Schlafen hinlegen, sind autistische Kinder zum Beispiel nur daran interessiert, wie ihre Augen auf und zu gehen.

Was ist im Umgang und in der Therapie mit Autisten wichtig?
SCHEIN: Psychotherapie funktioniert nur über eine gute Beziehung. Jemand, der so überfordert ist, braucht Menschen, denen er vertrauen kann, dass sie ihn nicht noch weiter in die Überforderung treiben. Über diese positive Beziehung fangen Menschen mit Autismus an, sich zu öffnen und Spaß an sozialen Kontakten zu haben.