I n der Antike galt Muße als Ideal, Sokrates bezeichnet sie als Schwester der Freiheit. Worauf führen Sie es zurück, dass sich das Image der Muße geändert hat und selbst in den Urlaub immer öfter Stress, Handy, Laptop mitfliegen?

IRMTRAUD TARR: Manche haben die Arbeit als zentralen Wert in ihrem Leben und vergessen die Beziehung zu sich selbst. Und das Handy ist die Nabelschnur, die uns mit der Welt verbindet. Wenn aber die Arbeit 80 Prozent ausfüllt, dann bleiben noch zwölf Prozent für die anderen und vielleicht noch acht Prozent für sich selbst. Die Arbeit ist ein Wasserkopf geworden, die alles beherrscht. Da schrumpft der Mensch sozial und es fehlt das Gespür, was man selbst braucht. Es haben auch viele die Kunst verlernt, Nein zu sagen und Ja zu sich. Ein Ja nach außen ist ja oft ein Nein zu mir selbst. Es geht aber nicht nur um den zentralen Wert der Arbeit.

Worum geht es noch?

TARR: Wir leben in einer Arena der Beachtungskämpfe. Hinter dieser Beachtungssucht steht ein Grundbedürfnis, das wir in unserer Gesellschaft mit Arbeit verwechseln. Wir haben gelernt: Um gesehen zu werden, musst du etwas leisten, sonst wirst du übersehen. Wir haben den Selbsterhaltungstrieb und den Trieb, dazuzugehören. Es gehört eine große Portion Selbstbewusstsein dazu, zu sagen, ich leiste es mir, nicht erreichbar zu sein. Gerade im Urlaub sollte man Distanz zur Arbeit aufbauen. Viele entfernen sich mit der Kilometeranzahl vom Arbeitsplatz, aber nicht innerlich. Das Glück wächst aber nicht proportional mit der Anzahl der gefahrenen oder geflogenen Kilometer.

Ein voller Terminkalender und ein stressiger Urlaub verschaffen das Gefühl, dazuzugehören?

TARR: Das ist es. Es ist heute ein Luxus geworden, einmal zu sagen: "Ja, ja, kein Problem, ich habe da Zeit." Das wagt kaum mehr jemand zu sagen. Ich glaube auch, dass der Mensch sich kaum mehr irgendwo mehr strapaziert als auf der Suche nach Erholung. Die Menschen nehmen Ortsveränderungen, aber keine Lebensveränderungen auf sich. Darin liegt der große Irrtum.

Der Irrtum besteht darin, dass ein Kulissenwechsel im Urlaub nichts an Problemen ändert?

TARR: Ja, weil man übersieht, dass man sich selbst mitnimmt.

Ein anderes Phänomen ist der Umgang mit Stille. Warum gibt es oft schon eine Flucht vor Stille?

TARR: Das große Gespenst unserer Zeit ist die Stille. Das hat auch mit unserer Geburt zu tun, dieses Paradies, das wir verlassen haben. Im Uterus gab es nie Stille. Stille bedeutet allein sein. Das tragen wir als Urmuster in uns. Unsere ganze Kultur läuft darauf hinaus, dass wir eine Art psychoakustische Hülle immer wieder suchen. In Italien geht das Radio von morgens bis Mitternacht.

Was sind die Auswirkungen, wenn Menschen nicht mehr entspannen können?

TARR: Die Folge ist das große Phänomen Burn-out. Das gehört ja eigentlich in die Elektrizität, weil dort Leitungen durchbrennen können. Burn-out heißt: Ich habe mich fertiggemacht, ich habe mich im Stich gelassen, weil ich meine Grenzen übergangen habe oder sie nicht mehr gespürt oder die Frage vergessen habe: Was ist das Wichtigste in meinem Leben?

Warum wird im Urlaub die Chance, sich einmal solchen Grundsatzfragen zu stellen, kaum genützt?

TARR: Im Urlaub gibt es die Chance, sich zu fragen, was man will. Diese Chance hat jeder und es gibt auch Menschen, die sie nützen. In einem verordneten Urlaub, wie wir es machen, geht das aber kaum.

Weil sich Muße nicht planen lässt?

TARR: Doch, jeder kann sich zumindest fragen, ob er wirklich im Stau nach Italien fahren muss oder zu Hause auf dem Balkon bleibt. Derzeit neigen Menschen dazu, sich selbst den Urlaub zu verordnen und wie die Lemminge in den Süden zu fahren.

Sie glauben, dass sich Menschen auch im Urlaub beeinflussen lassen?

TARR: Es gibt gesellschaftliche Beachtungszwänge: Ich war dort und dort. Man identifiziert sich mit denen, die Golf spielen, eine Jacht haben und nicht zu Hause bleiben, weil das spießig ist. Urlaub ist heute auch ein Statussymbol. Da beginnt die Leistung, die Strapaze, auch während der Erholungsphase mithalten zu müssen - wie die Ratten.

Steht hinter dem Urlaubsstress, dem sich manche aussetzen, auch die Angst vor Langeweile, Leere?

TARR: Keiner will in ein Loch fallen. Ich weiß nicht, wie viel Alkohol mehr fließen würde, wenn die Leute aus ihrem Alltagsstress aussteigen und nicht in den selbst verordneten Urlaubsstress wechseln würden. Man beruhigt sich mit Leistung im Urlaub. Motto: Denk bloß nicht über dich nach.

Sie haben sich als Psychotherapeutin und Konzertorganistin lange mit der Kunst des Loslassens beschäftigt. Was zeichnet Menschen aus, die gut abschalten können?

TARR: An erster Stelle die Fähigkeit, sich überhaupt wahrzunehmen, sich selber nahe zu sein. Wir sollten uns an jedem Tag des Jahres eine Oase des Innehaltens schaffen.

Was ist Ihre tägliche Oase?

TARR: Wenn ich an der Orgel übe. Jeder sollte sich fragen, wo er in sich selbst eintauchen kann. In Österreich habe ich einmal das Wort "schildkrötln" gehört, das heißt einfach nichts tun, Löcher in die Luft schauen. Es geht um das Verstehen, dass ein Tag, an dem ich nur abhake und erledige, kein guter Tag ist.

Was droht im Urlaub, wenn sich das Leben außerhalb der Ferien vorwiegend auf eine Liste von Erledigungen reduziert?

TARR: Die Liegestuhldepression, die oft ersäuft wird. Oder es kommt zu Streit, weil wir wie zu Weihnachten auch im Urlaub uns alle ganz lieb haben wollen, ganz entspannt sein wollen. Aber wenn ich das im Alltag nicht im Ansatz eingeübt habe, wird das im Urlaub zur Katastrophe.

Wie erholen Sie sich am besten?

TARR: Bei luxuriöser Langeweile, aber Langeweile hält kaum jemand aus. Nietzsche sagte: "Nichts ist schlimmer für den Menschen, als einen Tag mit Nichtstun verbringen zu müssen."

Sonnenlieger haben damit kein Problem.

TARR: Nein, die sind aber in der Unterspannung wie Schaufensterpuppen, denen die Arme nach unten hängen. Das ist auch schon wieder Stress, sich von der Früh bis zum Abend in der Hitze zu quälen. Es geht auch in den Ferien um das Wechselspiel, sich zu fordern und wieder loszulassen.

Sie sagen, Loslassen sei kein simpler Reflex wie auf die Bremse zu steigen, sondern mit einer mentalen Kampfkunst wie Judo vergleichbar, die Übung bedarf. Wie soll denn geübt werden?

TARR: Der erste Reflex als Baby ist das Klammern. Wir halten uns fest, weil das Fallen Angst macht. Das Halten können wir, aber das Loslassen müssen wir lernen. Das eine im Leben ist das Dranbleiben, um etwas zu erreichen, das andere ist, zu spüren, wann man loslassen muss. Das muss man üben.

Sie sind auch Konzertorganistin und treten in der kommenden Woche in Spanien auf. Erholung oder Stress?

TARR: Das ist kein Stress, ich gebe gerne Konzerte. Das Einzige, was mich stört, sind Besucher, die mit der Partitur in der Hand im Konzert sitzen. Das zieht Aufmerksamkeit ab. Die gehen wie der Lehrer in der Musikschule mit den Fingern mit den Noten mit und können nur analysieren, checken, ob man jede Note spielt, aber nicht zuhören.

Was würden Sie diesen Zuhörern gerne sagen?

TARR: Hört doch einfach zu und genießt die Musik.