Ein schüchternes Lächeln zwischen zwei Pausbacken, rötlich-blonde Haare, gebändigt durch einen scharfkantigen Reindlschnitt – lieb, nett, ein Allerweltskinderfoto. 20 Jahre später hat das schüchterne Kind namens Brian Hugh Warner aus dem langweiligen Canton, Ohio, die Musikboxen in das offene Fenster gestellt und die Lautstärkenregler bis zum Anschlag aufgedreht. Die unmissverständliche Botschaft: Hier ist einer ausgezogen, um das Fürchten zu lehren und nicht, es zu lernen. Der Plan ist einfach, aber solide. Der Aufwand minimal, die Wirkung nachhaltig. Das Werkzeug: die Provokation. Die Ausführung: wohl kalkuliert.

Die Kunst der Provokation

Es ist das alte Spiel mit der Grenzüberschreitung, das hier gespielt wird, und der Rasen des Spielfeldes ist zu dieser Zeit in einem Idealzustand: 1996, zwei Jahre nach dem Tod des Nirvana-Frontmans Kurt Cobain, hat sich auch der Grunge ins Abseits gestellt. Die Gitarren-affine Jugend giert nach Neuem, will raus aus der Seattle-Melancholie. Die Alternative ist schrill, laut und hat einen Namen, der im Land von Bible Belt und Tea Party gezielt einschlägt wie eine Bombe: Marilyn Manson. Es sind die zwei Enden der US-Popkultur, die Brian Hugh Warner miteinander vereint: Marilyn Monroe, der Engel, Charles Manson, der Teufel.

Popkultur und Provokation, zwei, die sich brauchen wie Zwillinge und erst einmal vereint gemeinsam die größten Erfolge einfahren. Manson braucht nicht hoch zu pokern, kennt die Ziele seiner Provokationen sehr genau: Es ist die rechtskonservative US-Bevölkerung, die Kirche, die alltägliche Biedermeierlichkeit.
Und er ist nicht der Erste, der diesen Weg geht: der Hüftschwung von Elvis und Jagger, die Freizügigkeit von Madonna, der Wahnsinn von Black Sabbath, Kiss und Alice Cooper. Der einzige Unterschied: Dort, wo die anderen stehen geblieben sind, geht er noch zwei Schritte weiter. Und wie alle anderen vor ihm weiß auch er ganz genau um seine Rolle als Sprachrohr und Verstärker für die Jugend, die ihm begierig folgt und klatscht.

Antichrist Superstar

Seinen Durchbruch feiert er mit der Platte „Antichrist Superstar“, seine Gegner verfallen reihenweise in hysterische Schnappatmung, seine Fans füllen die Konzerthallen. Marilyn Manson ist als kleiner Brian Hugh Warner in der Station Subkultur in den Zug eingestiegen und steigt als Star im Mainstream wieder aus. 17 Jahre nach seinem Durchbruch ist für Manson die Mission erfüllt oder besser gesagt: Der Schockrocker wurde von der Realität eingeholt, ja eigentlich überholt.

Womit noch provozieren, was sich längst im seichten Wasser der Popkultur tummelt? Drogen? Lächerlich! Sein Lied „The Dope Show“ sorgte in den 90ern für heftigste Debatten und Empörung, aktuell wäre es der ideale Soundtrack für die Erstarkung eines neuen Geschäftsfeldes, denn mittlerweile ist in 23 von 50 US-Bundesstaaten der Handel mit Marihuana erlaubt. In Kalifornien wurde soeben die erste Hochschule für Geschäfte mit Marihuana gegründet – Testlabor inklusive. Allein der Umsatz mit legalen Verkäufen lag im Vorjahr Experten zufolge bei zwei Milliarden Dollar, Tendenz sehr stark steigend.
Selbst das Allzeit-Tabuthema Sadomasochismus hat sich längst Hollywood gekrallt und für den Mainstream glatt gebügelt: Schon seit Monaten knallt die Marketingpeitsche für den Filmstart von "Fifty Shades of Grey" – der Verfilmung einer gleichnamigen Buch-Trilogie über die Beziehung einer Studentin mit einem Milliardär, der einen Hang zu ausgefallenen Sexpraktiken hat. Mehr als 100 Millionen Mal wurden die Bücher bereits verkauft. Sogar die Kirche hat sich selbst von der Provokationsliste gestrichen: Papst Franziskus geizt nicht mit Reformen und wird schon mal vom Lifestyle-Magazin "Vanity Fair" zum Mann des Jahres gewählt. Die sizilianische Nonne Cristina Scuccia gewinnt die Castingshow "The Voice of Italy" und singt vor der malerischen Kulisse Venedigs die einstige Madonna-Skandalnummer "Like a Virgin".

Einer der letzten Dinosaurier


Manson, mittlerweile handzahm und reich genug, versteht sich nun mehr als düsterer Dandy, der zwischendurch für das Modehaus Yves Saint Laurent vor der Kamera steht oder auch in der Kultserie „Sons of Arnachy“ mitspielt. Wohl wissend, dass sich die Zeit der großen Provokateure im Mainstream dem Ende zuneigt. Manson ist wohl einer ihrer letzten großen Dinosaurier. Heute hingegen ist die Provokation schnell, wendig, surft durchs Netz, sucht sich gezielt ihre Zielgruppen und will oft gar nicht gefunden werden; wenn doch, bilden sich blitzschnell Gegenbewegungen. Doch es ist die beste Provokation – als theoretischer Anstoß für gesellschaftliche Debatten – nichts wert, wenn die Realität, wie es der Anschlag auf "Charlie Hebdo" gezeigt hat, selbst alle bisherigen Grenzen sprengt.

Zwei Lieder wurden bereits aus dem neuen Album "THE PALE IMPERATOR" veröffentlicht: "Third Day Of A Seven Day Binge" und "Deep Six":

 "Third Day Of A Seven Day Binge"