Entlang des Kanals eilen wir hinter der Choreografin her. Zuvor hatte sie uns gebeten, ihr dicht auf den Fersen zu bleiben. Das erfordert Konzentration, da uns ständig Performer*innen überholen, die unvermittelt stoppen, so dass man spontan ausweichen muss.

In „Progetto Archeology“ der 10. Tanzbiennale Venedig von 17. bis 26. Juni lässt das vierköpfige Team aus Architektur, Soziologie und Tanz rund um die Choreografin Elisabetta Consonni das Publikum die Stadt hautnah erfahren. Gemeinsam mit 13 Workshopteilnehmer*innen entwickelte Consonni einen halbstündigen Parkour fernab von Tourismusattraktionen. Die Interaktion zwischen dem menschlichen Körper und dem städtebaulichen Raum vertieft – so die These des Projekts – die Zugehörigkeit zum sozialen Umfeld.

Urbanes Glück

Virgilio Sieni verschränkt auch im vierten Jahr seiner künstlerischen Leitung der Tanzbiennale Venedig hochkarätige Gastspiele mit site-specific Formaten. Unbeirrt hält er damit an der Vision einer „Polis“ fest, welche seit der Antike ein geglücktes, urbanes Zusammenleben meint. 25 Künstlerinnen und Künstler präsentierten in 10 Tagen 19 Performances, davon 10 Weltpremieren und 8 Italienpremieren, sowie 13 Kreationen aus der hauseigenen Weiterbildungsstätte „Biennale College“. Eingeladen waren internationale Größen wie Maguy Marin, die heuer für ihr Lebenswerk mit dem goldenen Löwen von Venedig ausgezeichnet wurde, sowie Trisha Brown, Nacera Belaza, Emanuel Gat, Anne Teresa de Keersmaeker, Daniel Linehan, Isabelle Schad und Laurent Goldring. Infolge von Wiederholungen kam es dabei zu insgesamt 65 Aufführungen an 5 Plätzen im Freien sowie 15 Räumlichkeiten in Theatern, Akademien und Palästen.

Eine Passage zwischen zwei Plätzen verwandeln die Performer*innen durch ausgebreitete Arme, gehobene Beine und gebückte Torsi in ein organisches Labyrinth. Beim Passieren des Durchgangs müssen wir unter Oberkörper schlüpfen, über Gliedmaßen steigen und uns zwischen verschwitzte Bäuche zwängen.

Weiterbildungsschiene

Eine breite Wahrnehmung, die Laien herausfordert, zählt für professionelle Tänzerinnen und Tänzer zur täglichen Routine. Kontinuierliches Training benötigt jedoch adäquate Ausbildungsstätten. Sieni, der eine staatliche, zeitgenössische Tanzausbildung in Italien nach wie vor schmerzlich vermisst, versucht diese Lücke mit der Weiterbildungsschiene „Biennale College“ zumindest temporär zu kompensieren. So lehren dort auch fast alle Choreografinnen und Choreografen, die sich mit eigenen Gastspielen auf der Biennale präsentieren. Das Publikum lernt dadurch einerseits die Methodik der Gäste im Rahmen der Showings am Ende des Colleges kennen. Andererseits bekommt es über die Präsentation der fertigen Gastspiele Einblicke in die ästhetische Gestaltung.

Menschen als Spieluhr

Yasmine Hugonnet zeigte beispielsweise im Gastspiel „La Ronde – Quartuor“ das Skulpturale des menschlichen Körpers. Drei Frauen und ein Mann drehen sich in Zeitlupe im Kreis, als wären sie die Figuren einer Spieluhr. Durch winzige Veränderungen in Haltung und Gestik vollziehen die Vier eine Zeitreise von antiken Vasen über mittelalterliche Rosetten, Rokokodekor, Industriezahnrädern bis zu kalligrafischem Webdesign. Im Showing „Unfolding Figures“ des Biennale College lässt Hugonnet die Studierenden folgerichtig die pure Technik minimaler Körperverschiebung als inszenatorisches Verfahren präsentieren.

Eng gedrängt stehen wir in der schmalen Gasse, deren Ein- und Ausgang Menschen mutwillig versperren. Hautnah riecht man Urin, der sich auf Distanz verflüchtigen würde. Plötzlich wird der Weg freigegeben. Alle strömen zum Kanal. Aufatmen folgt auf den Fuß.

"Back Pack" von Francesca Fascarini
"Back Pack" von Francesca Fascarini © (c) Akiko Miyake

Bewegungsstudien

Einen ambivalenten Eindruck hinterlässt die Häufung akribischer Bewegungsstudien der heurigen Tanzbiennale. Ob diese Tatsache als biedermeierlicher Rückzug zu deuten ist oder als Hoffnung, die Antworten auf gesellschaftliche Umwälzungen gleichsam unter dem Mikroskop zu finden, kann nicht beantwortet werden. Obwohl spannende Tanz-Etüden entstehen, fehlt hier der Blick aufs Ganze. In „Ra-me“ von Lara Russo erforschen drei Männer bedächtig drei lange Kupferröhren. Gabriel Schenker vibriert in „Pulse Constellations“ muskelgenau zur Musik von John McGuiere. Mariana Giovannini perspektiviert ihre Choreografie in „Duetto nero“ zwischen Mathematik und Goldenem Schnitt. Lediglich Francesca Foscarini problematisiert in „Back Pack“ über den hochartifiziellen Umgang mit ihrem Rucksack und dessen Inhalt gegenwärtige Phänomene wie Nomandentum, kulturelle Codierung und Sicherheitszonen.

Anarchischer Rap

Als ein Höhepunkt der internationalen Gastspiele entpuppte sich „dbddbb“ der Kompanie „Hiatus“. Der 34-jährige, gebürtige US-amerikanische Choreograf Daniel Linehan mit belgischer Wahlheimat entfesselt einen einstündigen, anarchischen Rap, begleitet von hochkomplexen, dadaistischen Silbenkaskaden, die das Ensemble einzeln, dialogisch, im Kanon oder als Chor ruft. Unter dem an Orgelpfeifen erinnernden Gehänge aus silbernen Stangen, an denen teilweise Sportschuhe wie Prothesen baumeln, und in queeren Kostümen, denen Ärmel oder Hosenbeine fehlen, pendelt das karnevaleske Treiben zwischen Ritual, Militärparade, Party und totaler Erschöpfung. Ein stupendes Sittenbild unserer Existenz.

Tanzbiennale Venedig
17. bis 26. Juni 2016
http://www.labiennale.org/en/dance/

Der Aufenthalt der Autorin wurde von der Tanzbiennale getragen.