Inmitten von Popsongs und schwülstigen Arien bietet heuer der "1944" betitelte Beitrag der Ukraine neben obligatorischer Feuer- und Lasershow auch Konfliktpotenzial.

Tatsächlich rührt "1944" an alten Wunden. Es ist das Jahr, in dem Tausende Krimtataren während der Herrschaft von Diktator Josef Stalin nach Zentralasien deportiert wurden. Erst Jahrzehnte später durften die Krimtataren in ihre alte Heimat zurückkehren. Die noch in Zentralasien geborene Jamala erzählt in ihrem selbst komponierten Lied auf Krimtatarisch und Englisch die Geschichte ihrer Urgroßmutter. Dabei erwähnt Jamala weder Stalin noch die Krimtataren. Lediglich die Zeilen "Ich konnte meine Heimat nicht haben" und der Refrain "Ihr habt meinen Frieden geraubt" deuten auf das Schicksal der Minderheit hin.

"Die Krimtataren leben heute wieder in einem besetztem Gebiet, es ist nicht leicht für sie", betont Jamala. Viele Krimtataren haben sich gegen die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland 2014 gewehrt. Seitdem wurden Dutzende Aktivisten verhaftet und eingeschüchtert, Zeitungen und Fernsehsender wurden verboten, zahlreiche Familien sind ins ukrainische Kernland geflohen. Jamalas Familie lebt weiterhin auf der Krim, seit mehr als zwei Jahren hat die Sängerin ihre Verwandten nicht mehr gesehen.

Krim im Fokus

Viele Russen fühlen sich von dem musikalischen Beitrag provoziert - jedoch nicht weil es ein dunkles Kapitel der sowjetischen Geschichte thematisiert. Er spiele eindeutig auf die Entwicklungen auf der Krim an, sagen russische Politiker.

Wenn die Ukraine schon mit politischem Inhalt auftreten will, dann sollte sie ihre eigenen aktuellen Probleme besingen, sagt etwa der kremltreue Duma-Abgeordnete Robert Schlegel: "Ein Lied über Korruption oder politische Unterdrückung in Kiew könnte auch erfolgreich sein." Jamalas Lied verfolge nur ein Ziel, nämlich "Russland zu verletzen", sagt der Politiker Wadim Dengin. Der Kreml schweigt bisher dazu.

Die Sängerin sieht die russische Reaktion gelassen. Immerhin habe sie vor dem Event weltweites Interesse geweckt. "Wenn sie ruhig reagiert hätten, hätte die Welt dem wahrscheinlich nicht eine solche Bedeutung zugemessen", sagte sie nach ihrer Nominierung der ukrainischen Ausgabe der "Komsomolskaja Prawda". Die Diskussion würde das Interesse am Schicksal der Krimtataren zusätzlich stärken.

Eine politische Botschaft bestreitet die Sängerin dennoch vehement. Das Lied würde lediglich an die Zeit in Zentralasien erinnern: "Jedes Mal, wenn wir uns an den Tisch gesetzt haben, erinnerte Großvater an die Deportation, sprach davon, wie sie kein Brot hatten", sagt die Sängerin der russischen Webseite "OpenRussia".

Und die ESC-Jury gibt ihr Recht: Die 32-Jährige darf in Stockholm wie geplant auf die Bühne - weder Titel noch Text seien politisch, urteilte die Europäische Rundfunkunion in Genf. Die Regeln der Jury sind streng, selten durften Länder mit eindeutigen Botschaften auf die Bühne.

"We don't wanna Put In"

2009 sorgte Georgien mit Lied "We don't wanna Put In" für Aufsehen. Ein Jahr nach dem Krieg mit Russland kritisierten die Sänger damit die Politik Putins. Russland reagierte als Gastgeberland erbost. Kremlsprecher Dmitri Peskow bezeichnete den Protestsong als "Rowdytum". Die Jury lehnte den Beitrag ab. Die Georgier wollten den Text nicht abmildern und reisten erst gar nicht nach Moskau.

Weißrussland erntete 2011 einen Rüffel: Sängerin Anastasija Winnikowa lobte in ihrem Beitrag die Sowjet-Zeit und durfte nur mit der abgeschwächten Version "I Love Belarus" antreten - und schied im Semifinale aus.