Der Wunsch, über Wasser wandeln zu können, ist so alt wie die Menschheit selbst. In Norditalien soll der Traum schon bald Wirklichkeit werden, wenn der Verhüllungskünstler Christo mit einem ebenso einzigartigen wie spektakulär-schönen Projekt den Iseo-See in ein begehbares, von gelb-leuchtenden Brücken durchzogenes Gewässer verwandelt. "Floating Piers", schwimmende Stege, nennt er das.

"Sehr sexy, sehr aufregend"

Damit kehrt der gebürtige Bulgare erstmals nach mehr als 40 Jahren mit einem Aufsehen erregenden Projekt nach Italien zurück - und verwandelt ab dem 18. Juni die beschauliche Region in ein Mekka für Kunstfreunde und Schaulustige aus aller Welt. "Die Menschen werden das Wasser unter ihren Füßen spüren und sehen, wie sich die Wellen unter der Oberfläche des Stoffes bewegen. Das ist sehr sexy, sehr aufregend", sagt der 80-Jährige. Er ist derzeit in New York, arbeitet unermüdlich an Skizzen und Zeichnungen und will diese Woche erneut nach Italien reisen, um die Arbeiten zu begutachten.

Die 16 Meter breiten Stege bestehen aus zusammengeschraubten Schwimmwürfeln aus Kunststoff und werden mit einem besonderen, "dahliengelb"-changierenden Nylongewebe bezogen. Auf drei Kilometern Länge sollen sie den Ort Sulzano auf dem Festland mit der Insel Monte Isola und von dort mit dem kleineren Eiland San Paolo verbinden. Ganz ohne zu schaukeln oder zu wackeln wohlgemerkt: Die Stege werden stattdessen die Bewegung der Wellen quasi aufsaugen, verinnerlichen.

Selbst am Telefon klingt Christo so begeistert, als handle es sich um sein erstes Projekt. Kein Wunder, hat er doch zusammen mit seiner 2009 gestorbenen Ehefrau Jeanne-Claude schon seit den 1970er Jahren versucht, Wege über Wasser zu bauen, zunächst in Argentinien, dann in Japan. Aber in beiden Ländern bekam das Künstlerpaar nie die nötigen Genehmigungen. "Wir sind nicht an allen Ecken der Erde mit offenen Armen willkommen", sagt der Projektleiter und langjährige Fotograf Christos, Wolfgang Volz, der seit Dezember am Iseo-See ist. "Wir müssen bei jedem Projekt immer wieder bei Null anfangen."

Voller Leidenschaft erzählt Christo derweil von der Suche nach der perfekten Location, von den Vorarbeiten, von seinem Team und den Materialien - und immer wieder von den 70 000 Quadratmetern Stoff, die in der Nähe von Münster von der gleichen Firma hergestellt und vernäht wurden wie das Gewebe, mit dem Christo und Jeanne-Claude 1995 den Berliner Reichstag verhüllt hatten.

Sonnenlicht färbt das Experiment

"Der Stoff schimmert golden und wird am frühen Morgen je nach Einfall des Sonnenlichts fast in einem dunklen Rot oder tiefen Orange erscheinen", schwärmt der gebürtige Bulgare. "Das Gewebe leuchtet teilweise so stark, dass man sich eine Sonnenbrille aufsetzen sollte." Aber das ist Zukunftsmusik. Das Polyamid-Gewebe ist noch in Deutschland, derzeit wird die Grundlage zusammengeschraubt: Über 200.000 Schwimmkörper, die jeweils 50x50x40 Zentimeter groß und aus sogenanntem "High-Density Polyethylen" gefertigt sind.

"Ende April haben wir mit unserem 35-köpfigen Team das letzte Segment zusammengebaut, immer zunächst in 100 Meter lange Stücke", erklärt Volz, der seit seinem ersten Treffen mit Christo und Jeanne-Claude 1971 zu einem der engsten Freunde und Mitarbeiter des Künstlers zählt. "Wir haben eine Halbinsel im See gemietet, Montecolino, die unsere Basis für die Vorbereitungsarbeiten ist", erzählt er. Über eine Rampe würden die einzelnen Stücke direkt ins Wasser geschoben und dort bis Juni gelagert. "Dafür haben wir extra 300 mal 300 Meter Wasseroberfläche angemietet."

Nur zwei Jahre Vorlaufzeit hatten die Floating Piers, das ist in Christo-Zeit gemessen wie ein Wimpernschlag. Zum Vergleich: Für die Verpackung des Reichstags in gigantische Bahnen aluminiumbedampften Polypropylengewebes waren fast 25 Jahre Vorbereitung nötig, die Verhüllung des Pont Neuf in Paris wurde 1984 erst nach neunjährigen Verhandlungen mit dem damaligen Bürgermeister Jacques Chirac genehmigt. In der Lombardei sei die Zusammenarbeit mit den Behörden hingegen unkompliziert gewesen, "einfach großartig", sagt Christo.

Am Ende bleiben nur die Fotos

Finanziert werden die kurzlebigen Originalwerke Christos durch den Verkauf von Skizzen, Collagen, Filmen und Fotos. Bereits am 3. Juli ist die Schau zu Ende, die Materialien werden abgebaut und recycelt, und die Menschen wandeln wieder auf der Erde. Volz, der das Projekt wie immer ablichten und verewigen wird, meint nachdenklich: "Jedes Mal, wenn wir ein Projekt verwirklichen, das vorher nur in den Köpfen existierte, bin ich unheimlich berührt und begeistert. Und dann ist es vorbei - und letztlich sind die Fotos das einzige, was von den Floating Piers bleiben wird."