Herr Weibel, wenn Sie von hier, von Karlsruhe aus, nach Graz blicken: Was sehen Sie da? Sehen Sie da überhaupt was?

PETER WEIBEL: Ach, Graz ist ja meine große Liebe und wird immer meine geistige Heimat bleiben! Ich sehe Bilder von Graz in den 60ern, 70ern, 80ern, als die Stadt ein ungeheures Potenzial hatte, das im steirischen herbst, im Forum Stadtpark oder der Grazer Autorenvereinigung Ausdruck fand. Und ich durfte dabei wesentlich mitmischen.

Und weniger nostalgisch?

WEIBEL: Graz hat ein paar wichtige Dinge übersehen. Unter anderem, während das Merkmal einer herausragenden Kulturstadt neben Wien schrumpfte und andere Städte gigantische Fortschritte machten: Linz etwa mit seinem Ars Electronica Center oder Salzburg, längst nicht mehr nur Festspielstadt – siehe zum Beispiel das Museum der Moderne auf dem Mönchsberg. Auch Innsbruck oder Bregenz haben fantastische Kultureinrichtungen. Graz hätte sich viel früher umstellen müssen, um der Konkurrenz gewachsen zu sein.

Mein Einwand, pars pro toto: Europäische Kulturhauptstadt 2003, Literaturhaus, Kunsthaus.

WEIBEL: Ja, man hat das Kunsthaus zwar gebaut, aber die Verknüpfung mit dem Joanneum war nicht gut. Gescheiter wäre es gewesen, man hätte dort von Anfang an autonom Programm machen können. Peter Pakesch ist ja eine kluge Person und ein Mann von Klasse. Aber als Kunsthaus-Leiter hatte er auch seine Defizite, denn er war und ist ja auch Galerist, und da kommt es natürlich zu Reibungspunkten, wenn man Künstler aus dem eigenen Kreis fördert. Aus meiner Sicht hatte er als Joanneum-Intendant kein wirkliches Interesse am Gesamtmuseum, darum hat er es im Herbst auch so fluchtartig verlassen. Außerdem: Es ist leicht, ein Chef zu sein, wenn Geld da ist. Aber die Liebe zu einem Haus zeigt sich erst wirklich, wenn die Zeiten schwieriger werden und man kämpfen muss.

Was raten Sie demnach in diesen nicht nur ökonomisch komplizierten Zeiten?

WEIBEL: Dass die Stadt Graz und das Land Steiermark deutlich zeigen sollen, was sie zumindest in den nächsten zehn Jahren in der und mit der Kultur erreichen wollen. Allein mit der Neubesetzung der Kunsthaus-Leitung ist es jedenfalls nicht getan. Das Universalmuseum Joanneum braucht eine grundlegende Reform des Gesamtkonzepts, sonst findet nämlich Graz den Anschluss an das internationale Niveau nicht mehr.

Ihr Vorschlag?

WEIBEL: Eine Task-Force einrichten, die sich ein deutliches Bild vom Joanneum macht und sich überlegt, wie man die einzelnen Abteilungen reformiert, wie man die Struktur updaten kann, welche attraktiven, modernen Zugänge es zur Kultur gibt.

Nennen Sie uns ein Beispiel!

WEIBEL: Kunsthistorische, kulturhistorische, naturhistorische Ausstellungen, mit den lieben Tierchen von früher . . . : Das ist doch alles nur Vergangenheitsbewältigung! Aber: Was haben Tiere heute für eine Bedeutung für uns? Für die Medizin, für die Technik, meinetwegen für die Politik? Solche Dinge würden mich als Kurator wie als Besucher interessieren. Heute sind ja die Grenzen zwischen den Genres mehr denn je aufgeweicht, auch jene zwischen Kultur und Massenmedien zum Beispiel. Grundsätzlich wäre es wichtig, geeignete Gruppen aus der freien Szene stärker einzubinden, von denen ohnehin schon viele in diese Richtung denken und arbeiten – die kann und darf man nicht mehr ignorieren. Jedenfalls sollte nirgendwo mehr in der Kultur Akademisches nur für Akademiker gemacht werden.



Wie sieht Ihr Gesamtbild von der Kultur in Graz und in der Steiermark aus?

WEIBEL: Die Kulturlandschaft ist ja allgemein wie ein Krankenhaus – lauter Patienten! Also muss man rasch herausfinden: Was ist die Krankheit? Und vor allem: Was die Therapie? Da genügt es nicht mehr, mit dem Stethoskop zu wedeln, da braucht es eine Magnetresonanz, die Radiologie.

Wie lautet also der Befund des Röntgenologen Dr. Weibel?

WEIBEL: Graz ist ein Reparaturfall. Aber die Chancen zur Renovierung sind da, nur bräuchte es halt den politischen Willen, um diese zu nutzen, und zudem das Zupacken aller Beteiligten von den Gremien und den Kuratoren hin bis zu den Künstlern selber. Nur weiß man ja: Stagnation ist was zutiefst Österreichisches.

Ist das bei Ihnen in Karlsruhe anders, besser?

WEIBEL: In Deutschland ist gut arbeiten. In Österreich ist gut leben, allein kulinarisch! Will man hingegen in Karlsruhe essen gehen – hier gibt’s ja nur Stuben (schmerzverzerrtes Gesicht)!

Gegen den Stillstand hierzulande bräuchte es wohl mehr Leute vom Schlage eines Heini Staudinger. Die obersten Prinzipien des Herstellers der Waldviertler-Schuhe lauten ja: „Scheiß di ned au!“ und „Sei ned deppert!“.

WEIBEL (lacht): Ja, und das erinnert mich an ein Buch. Früher war mein liebster Buchtitel „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Aber fast noch besser ist nun jener des im Vorjahr verstorbenen Physikers Heinz Oberhummer: „Das Universum ist eine Scheißgegend“. Der fasst so schön die österreichische Seele zusammen: Nicht nur Otta-kring ist beschissen, nicht nur Wien, nein, gleich das ganze Universum. In dieser alles durchdringenden Depression darf man sich natürlich nicht erwarten, dass sich was ändert, geschweige denn, dass jemand was ändert. Alles soll bleiben, wie es ist, weil das, was ist, sicher immer noch besser ist als das, was kommt.

Wie lange bleiben Sie eigentlich als Leiter des Zentrums für Kunst und Medientechnologie noch in Karlsruhe?

WEIBEL: Mein Vertrag läuft noch bis 2019, dann bin ich 20 Jahre hier und 75 Jahre alt. Ich habe ja bewusst einen Werkvertrag, weil ich ein freier Mann sein will, eigenständig in den Entscheidungen. Wenn ich 2019 gehe, wird mir aber sicher nicht fad. Nachdem ich mich so lange in den Dienst der Kultur gestellt und für andere gearbeitet habe, freue ich mich schon sehr darauf, mich wieder ganz auf meine eigene Kunst konzentrieren zu können.

Die Sehnsucht danach ist also stark geblieben?

WEIBEL: Natürlich. Zuletzt hatte ich unter anderem eine Ausstellung in Moskau. Wenn ich parallel beschäftigt bin, ist der Preis dafür allerdings schon hoch: Bis 22 Uhr Aufgaben für das ZKM erledigen, danach bis tief in die Nacht hinein an eigenen Texten, Büchern et cetera arbeiten.

Kein Wunder also, dass ich im Kiosk des ZKM einen Bleistift fand mit Ihrem Spruch: „Kunst kennt kein Wochenende.“ Sind Sie der Mann, der niemals schläft?

WEIBEL: Der Titel einer US-Serie, die gerade in einem deutschen Fernsehsender lief, passt noch besser zu mir: „Der schnellste Mann der Welt“ (schmunzelt).

INTERVIEW: MICHAEL TSCHIDA