Man muss kein Baumeister sein, um zu erkennen: Dieser Graben ist breit. Zwischen Klassik und Popmusik ist, charmant gesagt, viel Luft. Doch woran liegt es? Der Statiker würde sagen: Es liegt an der Klassik, die bewegt sich nicht, die öffnet sich nicht. Doch ganz so verstockt und abgehoben scheint man in und rund um den Orchestergraben dann auch wieder nicht zu sein. Sogar die Grundtrias Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll ist offenbar im Klassikbetrieb kein exotisches Tier – zumindest wenn man den Ausführungen der Oboistin Blair Tindall glauben darf. In ihrem 2005 erschienenen Buch „Mozart in the Jungle: Sex, Drugs, and Classical Music“ lässt sie hinter die Kulissen des Klassikbetriebs blicken. Nicht immer schmeichelhaft, aber zutiefst menschlich. Genau das scheint die Hilfslinie zu sein, die es braucht, um ein breites Interesse zu wecken – und das Fernsehen.

Jahrelang hielt der US-Bezahlsender HBO („Sex and the City“, „Game of Thrones“) die Hand auf dem Buch, bis der Versandhändler Amazon das TV-Geschäft für sich entdeckte. Der Internetgigant machte presto (sehr schnell) eine Eigenproduktion daraus und lieferte ein Husarenstück der Extraklasse ab. Die Serie „Mozart in the Jungle“ holte im Jänner gleich zwei Golden Globes. Beim Publikum schlug die Comedy-Serie rund um ein Orchester fortefortissimo (unglaublich stark) ein. Seit letzter Woche ist die zweite Staffel auf Deutsch bei Amazon Prime zu sehen, eine dritte Staffel wurde Anfang Februar in Auftrag gegeben.

Im Zentrum der Serie stehen die altehrwürdigen New Yorker Symphoniker, die mit Rodrigo De Souza (verkörpert von Gael García Bernal) einen neuen Dirigenten bekommen. Als Vertreter der sogenannten „jungen Wilden“ mischt er das Orchester mit seinen unorthodoxen Methoden und Zugängen – Konzertproben im Hinterhof, Rose statt Taktstock – gehörig auf. Ihm als Assistentin zur Seite steht die junge Oboistin Hailey (Lola Kirke), die auf einen Platz im Orchester hofft. Mit viel Charme und Witz gelingt den Serienmachern das Porträt einer Einheit, deren Seele ihre starken Individuen sind. Dass ein Hauch von Wes-Anderson-Feenstaub über dem Ganzen liegt, kommt nicht von ungefähr: Roman Coppola (Co-Autor von „Moonrise Kingdom“) und Jason Schwartzman („Darjeeling Limited“, „Grand Budapest Hotel“) sind bei dem Projekt federführend.

Ein Shootingstar als reales Vorbild

Die Geschichte hat aber noch mehr Bezug zur Realität als die Buchvorlage. Die Rolle des Rodrigo De Souza erinnert nicht zufällig an den venezolanischen Stardirigenten Gustavo Dudamel. Der 35-jährige Shootingstar, der im nächsten Jahr als jüngster Dirigent das Wiener Neujahrskonzert dirigieren wird, hat nicht nur optische Ähnlichkeit mit seinem Serien-Alter-Ego. Dudamel, aktuell Chef des Los Angeles Philharmonic, dirigierte schon mit zwölf Jahren das Jugendorchester seiner Heimatstadt Barquisimeto. Mit 18 wurde er Chefdirigent des Simón-Bolívar-Jugendorchesters. Seinen kometenhaften Aufstieg verdankt er auch seiner Ausbildung im staatlichen Musikprogramm „El Sistema“, das Kindern aus armen Verhältnissen eine musikalische Ausbildung ermöglicht.

Gustavo Dudamel
Gustavo Dudamel © APA/HERBERT PFARRHOFER (HERBERT PFARRHOFER)


Mittlerweile hat Dudamel, der in der zweiten Staffel von „Mozart in the Jungle“ einen Gastauftritt hat, Popstar-Status. Doch was macht den Südamerikaner so besonders? „Er ist von seinem Auftreten her eine funkelnde Persönlichkeit, der absolute Shootingstar in der Klassikszene. Wenn er vor dem Orchester steht, dann hat er ein irrsinniges Feuer – es sprüht!“, beschreibt der angehende Dirigent und Korrepetitor Florian Groß die Begeisterung für Dudamel. Eine sympathische Persönlichkeit, die auch als Sinnbild für eine neue Dirigentenära verstanden werden kann – nämlich das Ende der „Dirigenten-Tyrannen“, wie es Groß beschreibt: „Das Dirigentenbild verändert sich immer mehr. Diese autoritären Persönlichkeiten, die es einmal gab – das hört sich auf.“ Doch Dudamel taugt auch abseits seines musikalischen Talents als Vorbild: Mit dem Simón-Bolívar-Orchester bietet der ausgebildete Geiger Jugendlichen eine echte Chance.

Die hohe Kunst des Dirigierens

Dass der Dirigent Begeisterung auslöst, wissen wir nicht erst seit Dudamel, viele vor ihm haben Kultstatus erlangt. Doch was löst das Dirigieren beim Dirigenten selbst aus? Warum gibt man – wie in den meisten Fällen üblich – sein eigenes Instrument aus der Hand und nimmt den Taktstock auf? „Man steht vor einem riesigen Klangapparat, den man formen, mit dem man arbeiten kann. Wenn das Orchester zu einer Einheit wird, dann ist das ein Klang, der unvergleichbar ist“, schwärmt Groß über die hohe Kunst des Dirigierens. Und der Begriff „hohe Kunst“ ist alles andere als aus der Luft gegriffen. Wer dirigiert, der zeichnet mit seinen Händen, seinem Körper und seiner Mimik ein Klangbild in die Luft – das Orchester versucht, dieses Bild so perfekt wie möglich umzusetzen. Es ist eine Sprache ohne Worte, die Dirigent und Orchester sprechen müssen.

Florian Groß
Florian Groß © Sofia Pinaeva

Die nonverbale Hauptkommunikation, auch Schlagbild genannt, wird über die Bewegung der Hände geführt, wie Groß erklärt: „In das sogenannte Schlagbild kann man alle Informationen für das Orchester einbauen – wie Tempo, Dynamik, Artikulation, Phrasierung und noch viel mehr. Bei großen Dirigenten ist das Schlagbild so auf das Wesentliche reduziert, dass das Orchester absolut eindeutige Informationen erhält und so gar nicht anders spielen kann.“ Groß erzählt das mit einer Leidenschaft, die auch Dudamel gefallen würde – auffällig ist, dass seine Hände sehr ruhig bleiben. Im Gespräch fuchtelt er nicht unkontrolliert in der Luft herum. Vielmehr unterstreichen seine Gesten ruhig, aber bestimmt das Gesagte. Und das kommt nicht von ungefähr: „Vor dem Orchester gibt man als Dirigent mit jeder Bewegung unweigerlich Informationen weiter. Das ist ja auch das Ziel: sich mit den Händen so auszudrücken, dass alles gesagt ist.“
Dirigieren ist eine Sprache mit vielen Klangfarben, genau das macht jeden Dirigenten so einzigartig. Keiner von ihnen gestikuliert gleich und nur die Besten sprechen eine Sprache, die ein Orchester beim Spiel hörbar zur Einheit werden lassen. Wer zur Romantik neigt, kann Magie dazu sagen.

Doch die Vorstufe zum Klangerlebnis ist Schwerstarbeit: „Man kann sich erst vor ein Orchester stellen, wenn man absolute Partiturkenntnisse hat“, klärt Groß auf und beschreibt den Weg dorthin: „Man schaut die Partitur durch, hört sie sich quasi im Kopf durch und spielt sie am Klavier. Man muss sich das Stück so weit erarbeiten, dass man eine absolut persönliche Klangvorstellung davon hat. Danach versucht man langsam, dass die Hand das macht, was man sich ausgedacht hat.“ Wer diese persönliche Klangvorstellung auch noch dem Orchester mitteilen kann, hat sein Ziel erreicht.

Ein Plädoyer für die klassische Musik

Dass mit der Serie „Mozart in the Jungle“ vielleicht der eine oder andere auch den Weg in die Klassik finden kann, ist gar nicht so abwegig. So lange wollte Dudamel aber nicht warten, er ist auch hier längst vorgeprescht: In Los Angeles hat er als Orchesterchef mit Werbung in mehreren Sprachen und einem flexiblen Repertoire aus Klassik und Cross-over neue Zuhörergruppen erschlossen und die Abonnentenzahlen erhöht. Vor allem die hispanischen Teile der Bevölkerung hat der Südamerikaner mit Musikbegeisterung und sozialem Engagement für sich gewinnen können. „Klassische Musik hat eine besondere Kraft, um Menschen zu verändern – und das kann in die ganze Welt exportiert werden“, beschreibt der Stardirigent selbst sein Motto.
Groß stößt in ein ähnliches Horn: „Man kann ja ganz gut leben und ganz gut sterben, wenn man nie Bruckners 7. Sinfonie gehört hat, aber wenn man sie einmal gehört hat, dann wird man sich denken: Das ist einfach großartig!“ Somit gilt: Die Tür steht offen, einfach durchgehen und genießen.

Johann Baptist Reichsfreiherr von Berchtold zu Sonnenburg