Breslau und San Sebastián sind im kommenden Jahr die Europäischen Kulturhauptstädte. Während sich die polnische Stadt als moderne und vielschichtige Stadt präsentieren will, wollen die Spanier vor allem das Publikum miteinbeziehen. Die Kultur soll in der baskischen Metropole, die lange unter dem ETA-Terror zu leiden hatte, zur Förderung des friedlichen Zusammenlebens dienen.

"Frieden", "Leben" und "Stimmen"

Das Programm in der 190.000 Einwohner-Stadt San Sebastián an der malerischen "Muschelbucht", das mit einem dichten Programmreigen zwischen 20. und 24. Jänner offiziell eröffnet wird, rankt sich um drei Achsen, die als "Leuchttürme" bezeichnet werden und die Namen "Frieden", "Leben" und "Stimmen" tragen. Auf einem Theater-Forum werden Stücke aufgeführt, die sich mit dem Konflikt im Baskenland befassen. Eine Delegation der Kulturhauptstadt wird andere Konflikt-Brennpunkte besuchen wie Belfast oder Sarajevo.

Die Kochkunst und die Gastronomie sollen eine tragende Rolle im Programm der Kulturhauptstadt spielen. Das "Festival Music Box" wird eine Serie von Konzerten veranstalten. Eine Ausstellung unter dem Titel "Friedensverträge" wird 300 Kunstwerke europäischer Meister zeigen, die 21 Museen zur Verfügung stellen. Das Internationale Filmfestival von San Sebastian, eines der bedeutendsten in Europa, wird 2016 zum Programm der Kulturhauptstadt gehören.

Bis vor wenigen Jahren war ein Schatten auf der Perle an der spanischen Atlantikküste gelegen. San Sebastián war wie kaum eine andere Stadt vom Terror der baskischen Untergrundorganisation ETA betroffen. Es herrschte eine Atmosphäre der Angst, Politiker konnten sich nur mit Leibwächtern auf die Straße wagen, Unternehmer wurden zur Zahlung von Schutzgeldern - der sogenannten Revolutionssteuer - erpresst.

Die Überwindung dieses Klimas des Hasses und der Angst war eines der Motive, die San Sebastián zur Bewerbung um die Ernennung zur Europäischen Kulturhauptstadt bewogen hatten. "Die Stadt brauchte etwas, um das Trauma zu überwinden", sagte Pablo Berástegui, Direktor des Projekts San Sebastián 2016. "Die Leute sollten etwas bekommen, das sie an die Zukunft der Stadt glauben lässt."

Das Programm der Kulturhauptstadt umfasst rund 100 Projekte in Bereichen der Kunst, des Tanzes, des Kinos, der Musik, der Architektur und der Gastronomie. Die Veranstalter verfolgen damit das Ziel, die Stadt vom Image des Terrors und der Gewalt zu befreien. "Wir wollen die Kultur als einen Faktor des Wandels nutzen", sagte Bürgermeister Eneko Goia. "Sie soll uns dabei helfen, die noch vorhandenen Wunden zu schließen."

Als das Programm vorbereitet wurde, war die ETA noch aktiv. Vor vier Jahren erklärte die Terror-Organisation eine "definitive Waffenruhe" und verübt seither keine Anschläge mehr. San Sebastián hatte sich aber auch in Zeiten des Terrors durch ein lebendiges Kulturleben ausgezeichnet. Die Stadt veranstaltet ein angesehenes Jazzfestival und internationale Filmfestspiele, die zu den wichtigsten in Europa gehören. Zudem verfügt sie über den "Kursaal", ein großes Kongress- und Kulturzentrum des Stararchitekten Rafael Moneo.

Die Veranstalter stehen nun vor der Herausforderung, Besucher anzulocken mit einem kulturellen Programm, das ohne Effekthascherei und ohne große Namen auskommen will. San Sebastián will als Kulturhauptstadt ein großes Forum von Ideen sein. Direktor Berástegui gab die Devise aus: "Die Kultur fürs Zusammenleben".

"Breslau hat eine Geschichte zu erzählen"

Schauplatzwechsel nach Polen: Für die niederschlesische Stadt Breslau (Wroclaw) bietet sich durch die gesteigerte Aufmerksamkeit die Gelegenheit, sich als Brücke zwischen Ost und West zu zeigen. Vom Venedig Niederschlesiens zu sprechen, ist vielleicht ein wenig übertrieben. Aber Brücken spielen im Stadtbild von Breslau mit seinen Oderarmen und -inseln tatsächlich eine wichtige Rolle. Als Brücke zwischen Ost und West sehen auch viele Breslauer ihre Stadt mit ihrer komplizierten, tragischen Geschichte.

In kaum einer anderen Stadt kam es durch den Zweiten Weltkrieg zu einem so totalen Umbruch. Das deutsche Breslau endete im Mai 1945. Das polnische Wroclaw musste seine Identität noch finden - und den Menschen, die aus dem ostpolnischen Lwow - heute Lwiw in der Westukraine, angesiedelt wurden, erst eine Heimat werden.

Doch das ist 70 Jahre her. Drei Generationen sind herangewachsen. Für die jungen Einwohner der Stadt ist die Grenzfrage, die ihren Großeltern und auch noch Eltern einst so viele Ängste vor einer "Rückkehr der Deutschen" bereitete, längst kein Problem mehr. Das deutsche Erbe der Stadt wird nicht verdrängt, es gehört zum vielschichtigen kulturellen Erbe der Stadt. Und deutsche Besucher stehen nicht unter Revanchismusverdacht, sondern werden auch außerhalb des Kulturjahres mit deutschsprachigen Angeboten umworben.

"Breslau hat eine Geschichte zu erzählen", sagt Magdalena Babiszewska, Sprecherin der Organisatoren der Kulturhauptstadt. "Unsere Angebote richten sich nicht nur an Besucher, sondern auch stark an die Einwohner der Stadt."

Es soll ein Jahr des Mitmachens und Mitfeierns werden, mit bewährten Festivals, die im kommenden Jahr größer und umfangreicher sein werden, aber auch mit neuen Projekten, die Performance, Musik und Literatur nicht nur auf die große Bühne, sondern auch in die Stadtteile bringen. Auch wirtschaftlich soll das Kulturjahr etwas bringen - die Organisatoren hoffen, dass im kommenden Jahr die Zahl der Touristen verdoppelt werden kann.

Mit einigen Programmteilen haben die Breslauer schon vor dem offiziellen Start am 17. Jänner begonnen. Das Kunstprojekt "Mosty" (Brücken) gab schon in diesem Sommer einen Ausblick auf das Kulturjahr und soll 2016 wiederholt werden. Einen Tag lang wurden 26 Brücken der Stadt in Kunstprojekte verwandelt.

Schon jetzt üben tausende Freiwillige, damit am Eröffnungswochenende alles bei der großen Performance "Przebudzenie" (Erwachen) von Chris Baldwin alles klappt. Baldwin, der auch einer der acht Kuratoren des Kulturjahres ist, will aus allen Himmelsrichtungen vier Menschenzüge mit riesigen Figuren in Bewegung setzen, die für die religiöse Vielfalt, den Wiederaufbau, das Hochwasser und die Innovation stehen, symbolisch die Geschichte der Stadt erzählen und am Ende zu einer Gesamtinstallation vereint werden sollen.

Nähere Einzelheiten will Sprecherin Babiszewska aber nicht verraten. "Es soll doch eine Überraschung werden", betont sie. Ganz bestimmt aber werde es ein starker Auftakt und erster Höhepunkt des Kulturjahres werden.

Der Info-Punkt des Festivals ist schon jetzt im Veranstaltungszentrum "Barbara" geöffnet. In den 70er Jahren traf sich hier die "Orange Alternative", eine Künstlergruppe, die mit anarchistischen Happenings die Staatsmacht gegen sich aufbrachte. Mittlerweile ist hier eher ein Treffpunkt hipper junger Kreativer, die im durchgestylten Zentrum am Laptop ihre neuesten Projekte planen.

Etwa 150 Projekte und Veranstaltungen werden die Breslauer und ihre Besucher durch das Jahr begleiten. Einige wollen vor allem kleinen Kulturinitiativen vom Kindergarten bis zur Seniorengruppe eine Plattform geben, andere sind spektakulärer angelegt, etwa wenn am 1. Mai Tausende Gitarrenspieler auf dem Marktplatz von Breslau gemeinsam den berühmten Jimi-Hendrix-Song "Hey Joe" anstimmen. Mitmachen kann jeder, der das Lied beherrscht und mit der Gitarre in die Odermetropole reist.

Breslau ist im kommenden Jahr nicht nur Kulturhauptstadt, sondern obendrein Welt-Buch-Hauptstadt der Weltkulturorganisation Unesco. Im April wird deshalb das Museum von Pan Tadeusz geöffnet, das sich ganz dem in Versform geschriebenen bekanntesten Werk des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz widmet.

Mit einer Nacht der Literatur sollen auch Büchermuffel an ungewöhnlichen Orten, in Kellern, Kirchen und auf Türmen zu Lesungen gelockt werden. Musikalisch darf natürlich polnischer Jazz nicht fehlen - an drei Wochenenden im Frühjahr und Sommer wird er im Mittelpunkt stehen. Einer der Höhepunkte dürfte ein Konzert des Pink Floyd-Gitarristen David Gilmour mit dem polnischen Jazzpianisten Leszek Mozder vor dem neu gebauten Nationalen Musikforum sein.

Gegen Ende des Kulturjahres steht ein Großereignis für Cineasten an: Am 10. Dezember werden in Breslau die Europäischen Filmpreise vergeben. Bereits von September an wird eines der Breslauer Kinos nicht nur die für 2016 nominierten Filme zeigen, sondern auch die preisgekrönten der Vergangenheit. Natürlich auch den polnischen Film "Ida" von Pawel Pawlikowski, der 2014 den Europäischen Filmpreis erhielt und als bester fremdsprachiger Film mit dem Oscar ausgezeichnet wurde.