Sonntag, 20.15 Uhr, irgendwo auf der Couch in Deutschland, der Schweiz oder Österreich: Das berühmte Fadenkreuz, das zu Klaus Doldingers psychedelischer "Tatort"-Fanfare erscheint, ist für Millionen Zuschauer daheim vor den Bildschirmen das Startsignal für den Mord zum Sonntag. 90 Minuten lang lebe das biedere Ritual des kollektiven Fernseherlebnisses – seit 45 Jahren.

Ein – sieht man von Sportübertragungen ab – zunehmend vom Aussterben bedrohtes Phänomen. Während Unterhaltungssaurier wie „Wetten, dass . . ?“ lange vor ihrer Midlife-Crisis vom Publikum oder den Rundfunkanstalten begraben werden, ist der „Tatort“ nicht umzubringen. Im Gegenteil: Der Kult um den Krimi wächst.

Der „Tatort“ wird bei wissenschaftlichen Tagungen erforscht, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter live kritisiert, von Kriminalbeamten analysiert („Tatortsicherung“), touristisch vermarktet („Tatort“-Touren, „Tatort“-Köche) und öffentlich zelebriert – beim „Tatort“-Schauen in Kinos oder Bars. Und wer (noch) kein Fan ist, bekommt trotzdem mit, worum es geht, da Twitter-Timelines zwischen 20.15 Uhr und 21.45 Uhr von „Tatort“-Postings geflutet werden.

Die Gewissheit


Der Sonntagskrimi hat etwas von einer Ersatzreligion. Er gewährt 1,5 Stunden lang Einblicke in menschliche und kommissarische Abgründe, machtbesessenen Filz oder handfeste politische Skandale – und es gibt trotzdem die beruhigende Gewissheit: Spätestens um 21.45 Uhr ist der Fall meist geklärt und die Guten haben über die Bösen gesiegt. Ein kurzer Abstecher ins Milieu.

Sexting bis Schlepper

Der „Tatort“ schont seine Zuseher nicht: Er verhandelt lasche Asylgesetze, das Schlepperwesen, das Bauprojekt „Stuttgart 21“ oder Problemzonen wie Sexting in Schulen, Drogenschmuggel durch Mulis, Crystal Meth, den kollektiven Rausch am Oktoberfest oder Neonazis im Fußballstadion. Themen, die auch die Schlagzeilen der Medien diktieren. Eine andere Erklärung: Der „Tatort“ fügt sich einfach wunderbar in die Woche ein. Er ist, Sonntagabend, der Abschluss des Wochenendes, bevor der Alltag uns Montagfrüh wieder einholt. Wohltemperierte Realität, gewürzt mit Zutaten der Unterhaltungskost – der Soziologe Hendrik Buhl nennt das „Politainment par excellence“.

Und wirklich fantastisch daran ist: Je älter der „Tatort“ wird, desto ausgefuchster, experimenteller und mutiger kommt der Sonntagabendkrimi plötzlich daher. Er ist manchmal Sozial- oder Psychodrama, dann wieder Actionthriller oder Brachialkomödie.

Die Erneuerung

Weimarer Darlinge: Christian Ulmen und Nora Tschirner
Weimarer Darlinge: Christian Ulmen und Nora Tschirner © MDR/Andreas Wünschirs


Die Lahmheit der 1990er ist zu Ende. Altersabnützungserscheinungen sind nur noch die Ausnahme in den Kommissariaten. Denn: Seit 2010 wird der „Tatort“ konsequent erneuert und verjüngt, seit damals haben zehn neue Ermittlerteams ihren Dienst angetreten. Publikumslieblinge wie Til Schweiger, Wotan Wilke Möhring, Nora Tschirner oder Christian Ulmen sind ebenso darunter wie die erlesenen Charakterdarsteller Ulrich Tukur, Meret Becker oder Fabian Hinrichs. Die Ermittlertypen sind heute vielfältiger als in den 1970ern: Es gibt einsame Wölfe, Säufer, beste Freunde, ermittelnde Mütter oder Psychopathen.

Was die neue Saison bringt


„Soziale Rollenspieler“ nennt sie der Soziologe Carsten Heinze. Mit irgendeinem Kommissar kann sich jeder identifizieren – und sonst bleibt immer noch Nörgeln auf Twitter. Die Erneuerung zieht. Die Quoten steigen wieder: Im Vorjahr erreichte ein „Tatort“ aus Münster 13,13 Millionen Zuseher – so viele wie seit 1992 nicht.
Heute Abend startet die neue Saison genau so, wie die letzte endete: mit einem Fall aus Luzern, in dem Reto Flückiger und Liz Ritschard einen Sniper jagen. 

Ihr werdet gericht: neuer Fall aus Luzern
Ihr werdet gericht: neuer Fall aus Luzern © ORF

Dann, so viel ist gewiss, kehrt auch der Hashtag #tatort zurück. Und wenn um 21.45 Uhr alles vorbei ist, tauchen die ersten Bilanzstorys zu den besten Tweets auf, Kriminalbeamte weisen den Drehbuchautoren penetrant Fehler nach.
Und Millionen sind auf der Couch dabei. Der Tod steht der alten Tante Fernsehen gut.