Jenny Erpenbecks (48) neuer Roman "Gehen, ging, gegangen" erscheint zu einem Zeitpunkt, da sich die Flüchtlingskrise in Europa dramatisch zuspitzt. Es ist eine berührende Geschichte über die Asylbewerber vom Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg. Der Roman, der es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, orientiert sich an den Fakten.

Im Herbst 2012 besetzten Flüchtlinge den Oranienplatz. Sie kamen aus anderen Teilen Deutschlands und kämpften mit der Besetzung für ihr Bleiberecht. Erst nach eineinhalb Jahren wurde das Camp nach einer Vereinbarung mit dem Senat geräumt, das Verfahren der Flüchtlinge geprüft. Doch am Ende erhielt so gut wie niemand von ihnen eine Aufenthaltserlaubnis.

Sinnkrise

Im Roman trifft der Altphilologe Richard eher zufällig auf die Männer vom Oranienplatz. Er selbst befindet sich gerade in einer Sinnkrise. Seine Frau ist gestorben und nach seiner Emeritierung weiß er nicht so recht, was er mit seiner vielen Zeit anfangen soll. In den Afrikanern sieht er zunächst ein interessantes Studienobjekt.

Richard will so viel wie möglich über das Schicksal dieser Männer und ihre fremde Lebenswelt erfahren. Doch es wird auch zu einer Erkundungsreise in ein unbekanntes Deutschland und den Dschungel des Asyl-Systems. Die Männer aus Nigeria, Mali oder Niger, denen Richard so poetische Namen wie Apoll, Tristan oder der Olympier gibt, haben mit einem mehr als prosaischen Alltag zum kämpfen. Fast alle haben zuvor in Libyen gearbeitet. Bis sie nach dem Sturz Gaddafis mit Gewalt aus diesem Land vertrieben wurden und übers Meer flohen. Weil sie in Italien als erstes registriert wurden, können sie auch nur dort Asyl beantragen. Berlin, Deutschland - leider nicht zuständig.

Absurdes System

Ein Dialog im Roman offenbart die ganze Absurdität des Systems: "Also arbeiten dürfen sie nur in Italien?, fragt er schließlich. Genau. Wo es aber keine Arbeit gibt. Genau. Und das Geld, das sie hier bekommen? Das wird nur ein paar Monate gezahlt - so lange, bis ein für allemal nachgewiesen ist, dass Deutschland nicht zuständig ist. Und dann? Dann werden sie nach Italien zurückgeschickt. Wo es aber keine Arbeit gibt. Genau."

Das Schicksal dieser Männer steht stellvertretend für die schizophrene Situation vieler Flüchtlinge: Da sich niemand für sie zuständig fühlt und die Verantwortlichkeit hin und her geschoben wird, müssen sich die Asylsuchenden schließlich selbst helfen. Sie sind Menschen mit einer ausgelöschten Vergangenheit und ohne Zukunft, gefangen im Warteraum des Lebens.

Nicht zufällig hat Jenny Erpenbeck als Protagonisten ihres Romans einen "Ossi" mit Brüchen und Neuanfängen in seiner Biografie gewählt. Denn auch Richard, das Kriegskind, gehörte einst durch puren Zufall zu den weniger Begünstigten dieser Welt. Aber er hatte zumindest die Chance eines Neustarts, die Flüchtlinge dagegen nicht. Das Smartphone ersetzt ihnen das Leben: "Ein Netz aus Zahlen und Kennwörtern spannt sich quer über die Kontinente und ersetzt ihnen nicht nur das, was für immer verloren gegangen ist, sondern auch den Neuanfang, der nicht stattfinden kann. Das, was ihnen gehört, ist unsichtbar und aus Luft."

Herzblut

Jenny Erpenbeck hat ihren Roman mit Herzblut geschrieben. Doch reicht er literarisch nicht ganz an das meisterhafte Vorgängerbuch "Aller Tage Abend" heran. Vielleicht steht die große Nähe zu den Fakten hier im Weg. Die Autorin versucht, das Thema von allen Seiten des administrativen Irrsinns zu beleuchten und manchmal ist das zu viel. Und doch: Jenny Erpenbeck setzt mit "Gehen, ging, gegangen" ein starkes Zeichen. Für mehr Empathie und gegen herzlose Bürokratie.

Jenny Erpenbeck: "Gehen, ging, gegangen", Knaus Verlag, 352 S., 20,60 Euro