Nach der Inszenierung der Rihm-Oper "Die Eroberung von Mexico" ist auch die erste Schauspiel-Neuproduktion der Salzburger Festspiele 2015 von einer szenischen Eigenwilligkeit geprägt, die man bedenkenlos "Regietheater" nennen könnte, wäre dieser Begriff nicht bereits hoffnungslos antiquiert. So wie Peter Konwitschny am Opernstoff Weltgeschichte und Kolonialismus nicht interessiert haben, so hält sich Stephan Kimmig im "Clavigo" gar nicht damit auf, das Beziehungsdrama um den erfolgreichen Journalist und Literaten, der seine Braut Marie sitzen lässt, einigermaßen plausibel zu gestalten. Geradezu demonstrativ setzt er sich über die Prämissen der Vorlage hinweg.

Seit langem weiß man, dass der Regisseur bei der Besetzung Geschlechtertausch betrieben hat. "Clavigo muss heute eine Frau spielen, wenn uns das interessieren soll", hat er verlauten lassen. Susanne Wolff spielt daher die Titelfigur, den karrierebewussten Künstler Clavigo, Marcel Kohler seine Braut, Kathleen Morgeneyer ihren als Rächer auftretenden Bruder Beaumarchais. Moritz Grove ist Clavigos aufwiegelnder Vertrauter Carlos, Franziska Machens die Mittlerfigur Buenco.

Die größte Überraschung des zweistündigen Abends: Dieses Gender-Crossing ist einem bald egal. Die Behauptung geht zwar nicht auf und verursacht weit mehr Ungereimtheiten als Erkenntnisgewinne - doch das ist bei weitem nicht das größte Problem der Inszenierung, die sich ihre Anregungen aus den unterschiedlichsten Bilderwelten holt, ohne je zu Schärfe und Stringenz zu finden.

Umrahmt ist das Ganze von einem Clownspiel, in dem das Darstellerquintett mit Roten Nasen, schrägen Frisuren und grellen Verkleidungen (Clavigo hat mit silbernem Glitzerkleid, blonder Hochsteck-Perücke und künstlichem Bauch mehr von einer Nana der Niki de Saint Phalle als von Madonna, dem Prototyp des selbstbewussten weiblichen Pop-Superstars von heute). Der Versuch von Clowndoktor Dr. Kimmig, die kranke Kunst mit Lachen zu kurieren, gerät jedoch zum Kunstfehler, bei dem nach viel Schnippelei vom Körper des Patienten nur noch ein Torso übrig bleibt, an den scheinbar beliebig neue Gliedmaßen angenäht werden. Das Resultat ist ein grellbuntes Monster, das Intensivpflege benötigt.

Kimmigs Kunststars sind offenbar als Konzeptkünstler und Spoken-Word-Artisten tätig, hantieren mit dem Mikrofon statt mit Malerpinsel oder Textcomputer. Sie sind aufgeblasen und hohl (Clavigo), vor Arroganz und Selbstbewusstsein platzend (Carlos) oder düster-zweiflerisch (Marie, die von Marcel Kohler mit so viel menschlichen Facetten ausgestattet wird, dass man als einzige gerne mehr von ihr erfahren hätte). Sie drehen Schwarz-weiß-Kunstfilme, stülpen sich bedeutungsvoll Plastiksackerl der Saatchi Gallery über den Kopf, sind aber auch Ballonfahrer.

Der sich im ersten Teil als Bühnenrückwand ständig nervig blähende Stoff (Bühne: Eva-Maria Bauer) entpuppt sich nämlich nicht als Teil eines Zirkus-Zelts, sondern als Ballonhülle. Später wird auch der Ballonkorb sichtbar werden und der sich füllende Ballon mit Projektionen bespielt, ja im Schlussbild sogar senkrecht aufgerichtet sein. Abheben wird er nie. Das hat er mit der Inszenierung gemeinsam.

Goethes Stückvorlage ist auf ein Minimum reduziert, dafür sind Song- und Performancetexte oder Goethes kurz nach "Clavigo" entstandenes kleines Rüpel-Drama "Hanswursts Hochzeit" eingearbeitet. Auch Jean Ziegler, 2011 als Eröffnungsredner der Salzburger Festspiele ein- und wieder ausgeladen, kommt mit einer ironisch gemeinten Weltverbesserungsrede, die Kathleen Morgeneyer als "ihre Großmutter Gerda Viertel" halten muss, mit vier Jahren Verspätung doch noch zu Festspielehren.

Clavigos Selbstanklage wird von dem von Beaumarchais mitgebrachten Kamerateam gleich aufgezeichnet, doch wer wen betrogen und verlassen hat, und wer sich deshalb schließlich umbringt, ist an diesem Abend ganz egal. Auf einen Schminkspiegel malt Marie mit Lippenstift das Wort "tot" und einen kleinen Richtungspfeil auf ihr Spiegelbild. Dann geht sie weg. Der Nächste bitte. Alles ist austauschbar.

Am Ende der Premiere dieser Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin, wo die Inszenierung ab 13. November zu sehen sein wird, herrschte Ratlosigkeit. Der Applaus wirkte ebenso müde wie die paar eingestreuten Buhs und Bravos. "Kein wirklich großer Künstler wurde jemals von seiner Zeit erkannt", prahlte Carlos zuvor mit Genie-Appeal. Vielleicht hat er ja Recht. Vorerst kann man getrost einmal zwei, drei Jahrhunderte abwarten.

INFO: "Clavigo" von Johann Wolfgang von Goethe, Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Eva-Maria Bauer, Kostüme: Johanna Pfau, Musik: Pollyester. Mit Susanne Wolff - Clavigo, Moritz Grove - Carlos, Kathleen Morgeneyer - Beaumarchais, Marcel Kohler - Marie Beaumarchais, Franziska Machens - Buenco; Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin, Salzburger Landestheater, Weitere Aufführungen: 29., 31. Juli sowie am 2., 4., 6., 7., und 9. August, Karten: 0662 / 8045500, ; Premiere in Berlin: 13. November;