Den Weg zum Pult kann er nur mit zwei Krücken bewältigen. Dort angekommen, dirigiert Nikolaus Harnoncourt aber den gesamten Abend stehend – auf den bereitstehenden Hocker setzt er sich nur in den kurzen Verschnaufpausen zwischen den einzelnen Messteilen.
Fällt Nikolaus Harnoncourt auch das Gehen schwer, so verfügt er doch ungebrochen über die Kraft, Solisten, Chor und Orchester in seinen Bann zu schlagen und sie zu Höchstleistungen zu motivieren: Mit der ersten der drei Aufführungen von Ludwig van Beethovens "Missa solemnis" bescherte er der "styriarte" eine Sternstunde, an der dank der ORF-Klangwolke das ganze Land teilhaben konnte. Nicht mehr gesehen haben die TV-Zuschauer aber, wie die Zuhörer im Stephaniensaal die Interpreten schließlich mit Standing Ovations feierten, die erst der Abgang der Künstler vom Podium beendete.

Erstmals hat Nikolaus Harnoncourt die "Missa solemnis" mit historischen Instrumenten aufgeführt – und dafür seinen Concentus Musicus, dessen Konzertmeister Erich Höbarth das Violinsolo im "Benedictus" überwältigend schön spielt, mit nur 48 Mitgliedern sehr klein besetzt. Die Folge: große Durchhörbarkeit, die den Farbenreichtum der historischen Instrumente und die Modulationskühnheiten zur Geltung bringt, in der gedämpften Mischung von tiefen Flöten und geteilten Bratschen im Vorspiel zum "Benedictus" harmonische Tiefenperspektiven eröffnet und den Pianissimoeinsatz des Kontrafagotts im "Credo" zum Ereignis werden lässt.

Differenzierte Dynamik

Das funktioniert auch deshalb so exzellent, weil der Dirigent alle dynamischen Anweisungen des Komponisten akribisch umsetzt, sei dies nun im "Credo" der abrupte Kontrast zwischen dem im Fortissimo geschmetterten "benedicimus te" und dem im Pianissimo folgenden "adoramus te" oder im "Agnus Dei" die bedrohliche Andeutung heranmarschierender feindlicher Truppen durch das trockene Pianissimo-Solo der Pauke.

In seiner stimmigen Tempodramaturgie wegen des schlanken, aber durchaus zu wuchtiger Schlagkraft fähigen Orchesterklangs zu etwas rascheren Zeitmaßen als zuletzt in Amsterdam greifend, gelingt Harnoncourt eine äußerst konzentrierte und ungemein stringente Interpretation. Seine detailgenaue Darstellung glüht vor Intensität, besitzt beseelte Innigkeit, aufrüttelnde Dramatik, überwältigende Größe und tiefe Spiritualität.

Ohne jede Solisteneitelkeit fügt sich das wunderbar harmonierende Vokalquartett Laura Aikin, Bernarda Fink, Johannes Chum und Ruben Drole, das bei Harnoncourt nach Beethovens Wunsch auch das meist dem Chor überlassene "Pleni sunt coeli" im "Sanctus" singt, in das Konzept. Und der phänomenale Arnold Schoenberg Chor, der die Fugen mit großer Klarheit darstellt, beweist faszinierend, dass die "Missa solemnis" kein Brüllstück sein muss und die gefürchteten Höhenflüge auch ohne forciertes Geheul möglich sind.

ERNST NAREDI-RAINER