Als Kommentar zum aktuellen Flüchtlingsdrama lässt sich die szenische Opernproduktion der Salzburger Pfingstfestspiele deuten. In Christoph Willibald Glucks „Iphigénie en Tauride“ lässt König Thoas jeden Fremden, der sein Reich betritt, ermorden. Und in der von Christian Fenouillat als Einheitsbühnenbild entworfenen unansehnlichen Halle, in der Iphigenie und ihre Gefährtinnen wie in einem Gefängnis leben müssen, gibt es für die elf Frauen nur drei Betten.

„So ruf ich alle Götter“, lautet das Motto, das die künstlerische Leiterin Cecilia Bartoli für ihre vierten Pfingstfestspiele ausgewählt hat. Das Zitat stammt aus Johann Wolfgang von Goethes Schauspiel „Iphigenie auf Tauris“, das gestern Vormittag in einer schütter besuchten Leseaufführung mit der unsicheren Brigitte Hobmeier und ihren souveränen Partnern Sven-Eric Bechtolf als Thoas und Michael Rotschopf als Orest zu erleben war.

In Glucks Oper üben die von Bartoli schon zum dritten Mal für die Pfingstfestspiele verpflichteten Regisseure Moshe Leiser und Patrice Caurier szenische Zurückhaltung. Im Verein mit Christian Fenouillat und dem Kostümbildner Agostino Cavalca, der die Soldaten des Königs Thoas wie Freischärler aussehen lässt, haben sie das antike Geschehen in die Gegenwart verlegt. Dass Iphigenie in ihrer Verzweiflung Selbstmord begehen will, ein Skythe auf den am Boden liegenden Orest uriniert und dieser sich nackt zu seiner Opferung hinknien muss, sind die stärksten Momente einer sonst auf äußerliche Dramatik weitgehend verzichtenden Inszenierung. Sie konzentriert sich auf das menschliche Drama rund um den Kreislauf des Tötens zwischen Muttermord und Menschenopfer und räumt der Musik von Glucks reifster Reformoper und dem durch sie transportierten Wort den Vorrang ein.



Hohe Textverständlichkeit zeichnet die von Diego Fasolis am Pult seiner schlank und kantig musizierenden Barocchisti dirigierte Produktion aus, die im ersten Akt auf das Ballett verzichtet und den zweiten mit einem von Gluck als Alternative komponierten Trauermarsch enden lässt.

In ihrer ersten großen Gluck-Partie gelingt Cecilia Bartoli ein faszinierendes Rollendebüt. Ohne Möglichkeit zu vokaler Akrobatik, fesselt sie mit glühender Intensität und brennendem Espressivo. Als Iphigénie verbindet sie die Empfindsamkeit herzergreifende Klage und aufwühlenden dramatischen Furor zu einer facettenreichen Charakterstudie.

Mit sengender Leidenschaft und kraftvollem Bariton trumpft Christopher Maltman als verzweifelter Oreste auf, der seine Höhen imposanter meistert als dies Topi Lehtipuu als ansonsten fast ebenbürtigem Pylade gelingt. Wuchtig schmettert Michael Kraus den Thoas, nachhaltig beeindrucken zehn Damen des Coro della Radiotelevisione Svizzera als Iphigenies Gefährtinnen.