"Nikita“, sagt seine Mutter, „ist ein kluger Bursche. Er weiß, wen er lieben soll.“ Ein Urteil, das sich nur mit freiwilliger mütterlicher Blindheit erklären lässt. Denn Nikita, Knecht am Hofe des reichen Bauern Petr, hat die Waise Marina verführt, verweigert sich aber dem Wunsch seines Vaters, sie zu heiraten, weil er längst mit Anisja, Petrs junger Frau, eine Affäre begonnen hat. Anisja wird den alten, kranken Petr vergiften und Nikita heiraten. Der Aufsteiger schwängert bald seine nunmehrige Stieftochter, die beschränkte Akulina, und wird kurz darauf, angeleitet von Frau und Mutter, das Neugeborene auf offener Bühne mit der Schaufel erschlagen.

Herde ohne Hirten

So geht es zu in Leo Tolstois Drama „Die Macht der Finsternis“. Gattenmord, Kindsmord, Ehebruch, Alkoholismus, Raufhändel, Betrug, Diebstahl sowie Zügellosigkeit und Grausamkeit im allgemeinen regieren die Bauernwelt, die der große russische Romancier in seiner naturalistischen Tragödie entworfen hat und in dem er düstersten Pessimismus verbreitet: Der Mensch ist ein Vieh, dem alle Moral fehlt. Und falls sich doch in einem Sünder das Gewissen regt, ruft der Gottsucher verlässlich ins Leere: „Eine Herde ohne Hirten, dumm und dreist, das ist der Mensch“, wird einer der Protagonisten am Ende sagen.

Das Stück, 1886 verfasst, sofort zensuriert und erst 1902 uraufgeführt, wird nur noch selten gespielt – für heutige Verhältnisse ist die defätistische Moralität wohl etwas üppig aufgetragen.

Am Akademietheater hat sich Deutschlands Regiewunderkind Antú Romero Nunes, im Vorjahr mit der Dramatisierung von Isabel Allendes „Geisterhaus“ an der Burg leidlich erfolgreich, des Stoffs angenommen und beherzt gestrichen. Den Beginn der Tragödie erzählt er als Farce. Auf einem Berg prall gefüllter Säcke (Bühne: Florian Lösche) turnt da eine verkommene Bauerngesellschaft herum, totenfahl bemalt und durchwegs in faltige Fatsuits gesteckt, und als genügten die künstlich aufgedunsenen Leiber noch nicht als Symbol innerer Verwahrlosung, sind diese Zombiekasperln auch noch übersät mit körperlichen Übeln, mit Buckeln, Polypen, Grind und Schorf. Wie der Regisseur aus diesen überzeichneten Karikaturen echte Charaktere formt, wie sich die dickleibigen Lachnummern immer unausweichlicher in die Tragödie ihrer eigenen Dumpfheit und Gier verstricken, ist die Glanzleistung dieses Abends.

Aenne Schwarz als Anisja und Fabian Krüger als Nikita liefern dazu eine fabelhafte Fallstudie von ehelicher Hörigkeit und Hass, als Nikitas Eltern brillieren Ignaz Kirchner, der den anständigen Habenichts gibt, und Kirsten Dene als verschlagenes Muttermonster. Mavie Hörbiger legt die Akulina als schlaue Närrin an, Johannes Krisch zeigt seine Vielseitigkeit in einer Doppelrolle als Petr und versoffener Knecht Mitri(c). Freundlicher Applaus nach kompakten zwei Stunden.