Melzer geht. Für einen Abschiedssalut, wie er am kommenden Donnerstag im Literaturhaus Graz für seinen langjährigen Leiter stattfinden soll, klingt das ein wenig lapidar. Aber es könnte nicht treffender sein, doch davon später.
Ich kenne Gerhard Melzer, damals von allen Hardy genannt, aus meinen frühesten Uni-Tagen. Der Sohn einer Schneiderin und eines Friseurs sah ein bisschen wie eine Mischung aus Peter Handke und Erzbischof Makarios aus, und ich verspürte eine instinktive Scheu vor ihm. Seine gewählte Ausdrucksform, sein Grundwissen und seine intensive Intellektualität wirkten einschüchternd auf ein Landei wie mich. Er kannte Thomas Bernhards Schriften, pries Hans Magnus Enzensberger und beherrschte Begriffe wie ambivalent oder dialektisch. Die Strecke zur Uni durch die Zinzendorfgasse legte er stets gemessenen Schrittes zurück.

Skepsis

Über die Jahre kamen wir einander näher, ich verlor die Scheu, aber nicht den Respekt vor ihm. Gerhard Melzer entwickelte sich zu einem guten Freund, mit dem jedes Gespräch fast den Wert eines Proseminars hatte und der mein Sensorium für literarische Feinheiten ebenso behutsam wie unerbittlich weiterentwickelte.
Skepsis
Eine gewisse Skepsis war dennoch nicht ganz ausgeräumt, als er 2003 zum Leiter des damals neuen Literaturhauses bestellt wurde. Im Stillen verdächtigte ich den Universitätsprofessor, ein elitäres Prestigeprogramm fahren zu wollen und allem, was unter Popularitätsverdacht stünde, das Eindringen in das spätbarocke Palais zu verwehren.

Geistesgrößen

Als damals schon langjähriger Leiter des Franz-Nabl-Institutes hatte er etliche Veröffentlichungen vorgelegt, die sich naturgemäß eher an die Wissenschaft als an ein breiteres Publikum richteten. War einer wie er der Richtige, um Literatur unter die Leute zu bringen? Aber ich behielt das ganz bei mir. Gott sei Dank.
Selten habe ich mich mit einer Einschätzung dermaßen geirrt. Und mich auch selten so über einen Irrtum gefreut. Vom ersten Moment an bewies der neue Chef, dass Qualität und Beliebtheit einander nicht zwangsläufig ausschließen. In den Eröffnungstagen gaben einander Geistesgrößen wie Ilse Aichinger oder Aharon Appelfeld sowie die eher unterhaltsame Doris Dörrie die Türschnalle des Literaturhauses in die Hand. Nobelpreisträger wie Imre Kertész lasen dort ebenso wie Erika Pluhar und die Reiseschriftsteller Andreas Altmann und Helge Timmerberg. Oder die Jungspunde der von Gerhard Melzer stark geförderten „plattform“.
An die 1700 Autorenlesungen gab es in der Ära Gerhard Melzer, dazu immer wieder Theater, Gesang oder literaturaffine Ausstellungen. Und das von Riki Winter ausgerichtete Kinderbuch-Festival Bookolino. Man darf sagen, dass Melzer sich als Idealbesetzung für das Haus erwiesen hat und seinem Nachfolger Klaus Kastberger eine starke Vorlage hinterlässt. Intrigen oder falschen Zurufen begegnete er stets stoisch. Und ging dann weiter.

Fremdwörter

Er hat sich eine gewisse Weltfremde bewahrt. Begriffe wie Shitstorm, Liken, Planking und andere Zeitgeistigkeiten sind bei Gerhard Melzer als Fremdwörter arretiert. Nicht aus Ignoranz, sondern im Bestreben, das Wesentliche zu verfeinern.
Melzer geht. Formell in Pension. Doch persönlich weiter. Er schreibt wieder mehr Rezensionen. Und in der Kleinen Zeitung zählt er ohnehin seit Jahrzehnten zu den Haus-Autoren. Er wird das eine oder andere seiner rund 7000 Bücher wieder zur Hand nehmen. Und er wird noch mehr Zeit in Istanbul verbringen, das ihm dank seiner Frau Jale Melzer-Tükel zur zweiten Heimat geworden ist.
Melzer geht. Im Elfenbeinturm zu sitzen wird niemals seine Sache werden.