Er war Zeitzeuge deutschen Kulturlebens: Fritz J. Raddatz, einstiger Feuilletonchef der "Zeit", zählte zu den einflussreichsten Literaturkritikern. Er schrieb mit spitzer Feder und ohne Weichzeichner, konnte verletzend und bösartig sein. Erst im Vorjahr hatte er seinen Abschied vom Journalismus erklärt. "Ich habe mich überlebt", schrieb er damals. Mit 83 Jahren ist Raddatz am Donnerstag gestorben.

Raddatz, 1931 in Berlin geboren, wuchs ohne Mutter auf. Seine Kindheit war überschattet von der brutalen Erziehung durch den Vater, einem preußischen Offizier. Nach der Schule studierte er unter anderem Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität in Ostberlin. Auf die Promotion 1954 folgte ein Cheflektorat im Ost-Berliner Verlag "Volk und Welt". Später siedelte er in den Westen über, war stellvertretender Leiter des Rowohlt-Verlags und schließlich "Zeit"-Ressortleiter in Hamburg.

Der schöngeistige Dandy, der offen bisexuell lebte, erntete während seiner Laufbahn Einfluss und Anerkennung, aber auch Spott und Häme. Etwa als ihn Ungenauigkeiten 1985 den Chefposten beim Feuilleton der "Zeit" kosteten - damals saß der Oberkritiker einem falschen Goethe-Zitat auf. Er selbst bezeichnete die Entlassung als "beruflichen Herzinfarkt", "hinausgeworfen wie ein Hund".

Raddatz veröffentlichte mehr als 25 Bücher - von Porträts und Biografien bis hin zu literarischen Reiseführern. Die Romantrilogie "Kuhauge" (1984), "Der Wolkentrinker" (1987) und "Abtreibung" (1991) war international erfolgreich. Mit seiner eitlen und mitunter gnadenlosen Art galt der "Unruhestifter" - so der Titel seiner Autobiografie - als streitbar und umstritten. In seinen Tagebüchern ging er mit Künstlern, Politikern und Kollegen hart ins Gericht. Der Schriftsteller Botho Strauß ist bei ihm eine "eisenharte Mimose" und ein überschätztes "Sensibelchen", Altkanzler Helmut Schmidt pflege "grässliches Oberlehrergequatsche" und Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld sei ein "Kotzbrocken".

"Genie, Geck, Galan. Paradiesvogel, Polemiker, Provokateur", schrieb der ehemalige "Zeit"-Herausgeber Theo Sommer einst über Raddatz. "Ein Mann der Manieren und Manieriertheiten. Flammend und flamboyant. Streitbar, damit er umstritten bleibt."

"Time to say goodbye", sagte Fritz J. Raddatz schon am Ende seines letzten Buches, das im März 2014 erschien. Ein ebenso bedeutender wie schillernder Zeitzeuge und Intellektueller Deutschlands sang dabei noch einmal das Lied einer vergangenen, aber nichtsdestoweniger wichtigen Epoche der deutschen Nachkriegszeit, deren prominente Kultur-Weggefährten ihm inzwischen fast alle abhandengekommen waren.

Der  Publizist und Kritiker Raddatz, ehemals auch einflussreicher und tonangebender Feuilletonchef der Wochenzeitung "Die Zeit" und ebenso emsiger wie engagierter Betreuer der Werke von Kurt Tucholsky, hatte diese Zeit auch in seinen privaten Tagebüchern festgehalten. Deren ersten Teil (1982-2001) publizierte er vor einigen Jahren. 2003 erschienen seine Memoiren ("Unruhestifter").

Der Tagebuch-Folgeband über die letzten Jahre und nach eigener Aussage auch Schlusspunkt erschien vergangenen märz bei Rowohlt, wo Raddatz auch einmal stellvertretender Verlagschef gewesen war. Darin ist auch ein - für manche Leser angesichts der Raddatz-Karriere etwas irritierendes - Lebensfazit enthalten. Der Mann, der mit "den Schönen und Reichen" und kulturellen Größen seiner Zeit Kontakt hatte, mit Wohnsitzen in Hamburg, Nizza und Sylt resümierte: "Nein, ich hatte kein 'schönes', für (kurze) Strecken 'glückliches' - und das vielleicht gar irrig? - Leben."

Aber doch ein "'erfülltes', farbiges, bis zum Rand volles (über den Rand?)" Leben. Dennoch: "Ich muss lachen, wenn ich lese, 'Der Grand Old Man des deutschen Feuilletons', ich muss entgegenhalten, daß ich so gut wie keine Anerkennung (in diesem Lande) gefunden habe." Und wie eine Grundmelodie durchzieht auch sein letztes Tagebuch seine Klage über die "Mäusetrettrommel" im Journalismus und die "Verkommenheit des Kulturbetriebs". Diesen hatte allerdings auch ein Raddatz über viele Jahre nach Kräften bedient und in dem er, wie er selbstkritisch notierte, bis zuletzt wie "ein altes Zirkuspferd" hinterhergetrottet war, weil es doch sein Leben war und das "Loslassen" so schwer fiel.

So ist denn das letzte Tagebuch im Gegensatz zum ersten Band, der auch eine große Kultur- und Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik wurde, eine streckenweise menschlich sehr berührende philosophische Betrachtung eines alten Mannes über das "verrinnende Leben", seinen Sinn allgemein, das Älterwerden und Loslassen-Können, über Vereinsamung und Verletzungen auch außerhalb des Berufes. Leider wurde es wieder eine etwas ausufernde Klatsch- und Tratschgeschichte  vom "Hinterhof" des Kulturbetriebs.

Dennoch: Raddatz war ein einzigartiger Zeitzeuge des Kulturlebens der Bundesrepublik, was auch sein letzter, etwas klatschhafter und an diesen Stellen zäh zu lesender, aber insgesamt auch interessanter und berührender Tagebuchband verdeutlicht. Die "Zeit" sprach gar von einem "gloriosen Vermächtnis". Raddatz selbst verabschiedete sich darin nach dem Motto "Es war sehr schön, drum sagen wir Auf Wiedersehen!".

© ROWOHLT

Buchtipp: Fritz J. Raddatz: Tagebücher 2002-2012. Rowohlt, 720 Seiten, 25,70 Euro.