Wie kam es 1977 zu Ihrer choreografischen Neufassung von "Josephs Legende" für das Wiener Staatsopernballett?

John Neumeier: Gerhard Brunner, damals Ballettdirektor, hat mich angerufen und gefragt, ob ich "Josephs Legende" an der Wiener Staatsoper machen würde. Ich habe "Nein" gesagt, weil ich diese Musik nicht so gern mag. Ein österreichischer Bekannter hat mir aber gesagt: "Das musst du eigentlich machen." Also habe ich zurückgerufen und gemeint, ich würde es mir noch einmal überlegen. Es hieß, Mikhail Baryshnikov und Maria Callas sollten die Hauptrollen verkörpern. Ich habe gesagt: "Ich würde es machen, aber ich möchte nicht die beiden, sondern Kevin Haigen und Judith Jameson." Kevin Haigen war damals ein unbekannter, junger Tänzer in meiner Compagnie, der sehr vielversprechend war.

Ihr Ansatz bei Potiphars Weib war es damals, keine Darstellerin, sondern eine Tänzerin zu verpflichten.

Neumeier: Ja, genau. Seit der Entstehung war es Tradition, dass die Hauptrolle mit einer großen Operndiva, einer Schauspielerin oder irgendeiner Pantomimen-Tante besetzt wurde. Ich habe gesagt: Wenn, dann müsste man wirklich versuchen, das zum ersten Mal durchzutanzen. Im Grunde genommen war das schon immer mein Wunsch, und in jeder Fassung, die ich seit 1977 gemacht habe - zuletzt 2008 in Hamburg -, habe ich die Choreografie immer mehr in die Gegenwart gebracht, mich immer mehr auf die Ausdrucksstärke des menschlichen Körpers, die Wahrheit, die emotionalen Verbindungen innerhalb des Stücks konzentriert, ohne sie in irgendeiner Form zu theatralisieren. Schließlich war das das Problem 1914: Durch die verschiedenen Autoren und durch die Tatsache, dass Nijinsky es nicht choreografiert und getanzt hat und stattdessen Mikhail Fokine zurückkam, hatte es von Anfang an etwas von "retro". Vor allem in der Art, eine exotische Umgebung zu finden, um dadurch dem Ballett eine Berechtigung zu geben. Mein Streben war stets, es immer reduzierter, immer klarer zu machen und dadurch immer näher an das Menschliche zu bringen.

1977 gestaltete Ernst Fuchs die Bühne, wie sehr hat sie sich seitdem verändert?

Neumeier: Ernst Fuchs ist ein sehr großer Künstler, ein fantastischer Maler des magischen Realismus. Genau das sollte damals ein Teil des Ganzen sein. Doch seitdem wollte ich zu einer größeren Klarheit kommen, zu einer Modernität mithilfe einer Art von Minimalismus. Die Bühne ist sehr schön proportioniert, und im Grunde genommen ist es ein Raum, der dem Tanz sehr viel Freiheit gibt.

Mit Rebecca Horner wählten Sie eine Tänzerin des Corps de Ballet der Volksoper, die nun neben den Ersten Solisten der Staatsoper die Hauptrolle tanzt. Was hat Sie überzeugt, in ihr Potiphars Weib gefunden zu haben?

Neumeier: Wo sie herkommt, kann ich nicht sagen, ich habe alle Tänzer, die hier waren, angeschaut. Die Rolle hatte 1977 Judith Jameson, eine sehr bedeutende, große, schöne, tolle Frau. Sie war schwarz und hatte eine besondere Art, sich zu bewegen, was nicht aus dem Klassischen kam. Für mich war es interessant zu sehen, inwieweit Rebecca die ursprüngliche Form dieser Choreografie verinnerlichen könnte. Das bedeutet nicht, Judith Jameson nachzumachen. Sie hat diese Souveränität und die besondere Bewegungsmöglichkeit, um diese Rolle zu gestalten, und eine frauliche Kraft, die für mich über die normale Kraft einer Ballerina hinausgeht.

Welche speziellen Herausforderungen bietet "Josephs Legende" für Denys Cherevychko als frommer Joseph sowie Rebecca Horner als Potiphars Weib?

Neumeier: Eine große Herausforderung ist die Länge des Solos und die Kraft der Musik. Strauss sowie Harry Graf Kessler und Hugo von Hofmannsthal, die das Libretto geschrieben haben, haben ein wahnsinnig langes Solo für Joseph kreiert. Man wundert sich - denn jedes Mal, wenn ich das höre, denke ich mir: Was hat der arme Leonide Massine mit 19 Jahren damals als sehr unerfahrener, junger Tänzer mit der ganzen Musik gemacht? Die Musik ist sehr kräftig und war für Nijinsky, den größten Tänzer des 20. Jahrhunderts, gedacht. Vor allem Kessler war völlig zerstört, als er hörte, dass Nijinsky das nicht tanzen und choreografieren würde, das war eine Katastrophe. Ein Tänzer muss als Joseph mit Ausdruck, Emotionalität, aber auch mit seiner Physikalität dieser Musik gerecht werden. Joseph ist fast von Anfang an bis Ende des Balletts auf der Bühne.

Auch Potiphars Weib ist keine einfache Rolle. Für mich war klar, dass so eine Verführung, die nicht stattfindet, keine abendfüllende Geschichte ist. Es muss eine ganz andere Geschichte sein: Die einer verwöhnten Frau, die alles hat, die jedes Label von Armani bis Gucci trägt, den schönsten, stärksten, reichsten Oligarchen als Mann hinter sich hat, und trotzdem spürt sie eine Sehnsucht. Es geht um diese Frauensehnsucht, die in der Unschuld von Joseph ein Ziel verspürt und versucht, diesem Ziel nahe zu kommen. Das klappt nicht - und es kommt zu einer weiteren Frustration, zu einer Aggression. Letztendlich ist sie in dem Moment, in dem Joseph seiner Bestimmung nachgeht, allein gelassen und fast wahnsinnig. Insofern ist es nicht nur tänzerisch eine sehr kraftvolle Rolle, aber auch von der Emotionalität sehr, sehr anspruchsvoll.

Lag die Idee bei der geringen Auswahl an Strauss-Balletten, "Josephs Legende" mit "Verklungene Feste" zu programmieren, nahe?

Neumeier: Ich habe "Josephs Legende" bei den unterschiedlichen Fassungen immer mit anderen Stücken programmiert, etwa in München mit einer Bach-Suite oder in Hamburg mit Strauss' "Don Quixote". Jetzt bei der Wiederaufnahme habe ich eine Liebe zu "Verklungene Feste" entdeckt. Das sind beides Stücke, die in der Nervosität, der Unsicherheit des Krieges entstanden sind - "Josephs Legende" bis in den Ersten Weltkrieg hinein, "Verklungene Feste" während des Zweiten Weltkriegs. Sie sprechen beide unterschwellig von unserer Vergänglichkeit.

Wie wichtig ist Ihnen die Botschaft bei Ihrer kreativen Arbeit?

Neumeier: Ich muss irgendetwas zu sagen haben. Die Musik muss mich zum Bewegen bringen, und wenn die Bewegungen gut, spontan und instinktiv sind, lerne ich daraus etwas über mich selbst und das ist das Wichtigste.

Mit "Josephs Legende" bearbeiten Sie einen biblischen Stoff, am Theater an der Wien zeigten Sie zuletzt Bachs "Weihnachtsoratorium I-VI". Welche Rolle spielt Ihr katholischer Glaube in Ihren Choreografien?

Neumeier: Mein Glaube spielt genauso eine Rolle wie mein Talent, meine erotische Seite, meine intelligente und weniger intelligente Seite, meine rationale und irrationale Seite. Ich versuche, als ganzer Mensch zu choreografieren, und mich nicht aufzuteilen. Ich bin, was ich bin. Dieser Dialog, den jeder Mensch in irgendeiner Form mit Spiritualität hat, ist Teil von mir und dadurch Teil meiner Arbeit.

Ist Ihre künstlerische Auseinandersetzung mit biblischen Stoffen im Laufe Ihrer Karriere je auf Kritik bei der katholischen Kirche gestoßen?

Neumeier: Die haben mich ziemlich in Ruhe gelassen. Übrigens: Ich komme von einer Jesuiten-Universität, und schon damals habe ich Choreografien von geistlichen Werken am Theater der Universität aufgeführt. Die Protestanten hingegen waren ein bisschen verärgert über die Matthäus-Passion ganz am Anfang, aber inzwischen wurde mir ein Bibel-Preis verliehen (Preis der Stiftung Bibel und Kultur, Anm.) und die Bischöfin in Norddeutschland (Kirsten Fehrs, Anm.) ist eine meiner besten Freundinnen.

Seit 1973 leiten Sie das Hamburg Ballett und sieht damit der am längsten dienende Ballettchef der Welt. Was hat Sie so lange in der Hansestadt gehalten?

Neumeier: Die Liebe zur Arbeit, die Liebe zu meiner Compagnie. Ich leite nicht seit 42 Jahren die gleiche Compagnie, sondern das Konzept einer Compagnie, die wie ein Fluss ist, der jeden Tag anders ist. Die Tänzer kommen, weil sie eine ähnliche oder gleiche Zielrichtung spüren, und ich lerne immer mehr. Außerdem hat in Hamburg eine riesige Entwicklung stattgefunden. Wir haben heute unser eigenes Gebäude, unsere eigene Schule, ein Internat, ein Bundesjugendballett - viele Dinge, die nicht von nichts gekommen sind, sondern durch den Erfolg der Compagnie und durch harte Arbeit und hartnäckige Verhandlungen für Tanz. Außerdem ist es ja so, dass wir nicht nur in Hamburg hocken. Wir sind von allen Compagnien wahrscheinlich am meisten auf Tournee, und ich arbeite mit vielen anderen Compagnien, in Moment sogar mit zwei gleichzeitig, Wien und Paris. Insofern habe ich nicht das Gefühl, dass ich Gefangener in Hamburg bin.

Anders als etwa Ihre Choreografien "Kameliendame", "Orpheus" oder "Sommernachtstraum" findet sich "Josephs Legende" nur selten auf dem Spielplan internationaler Opernhäuser. Was meinen Sie, woran liegt das?

Neumeier: Tatsächlich wird "Josephs Legende" nur Wien, Hamburg und München gezeigt. Es ist eben eine sehr, sehr anspruchsvolle Musik, und es hängt sehr viel mit der Qualität des Orchesters zusammen. Diese Musik, schlecht gespielt, möchte ich nicht hören. Und man muss wirklich sagen: Besser als hier in Wien kann man es nicht hören.

INTERVIEW: ANGELIKA PRAWDA