Im Kellergeschoss der Grazer Stadthalle stand in einem kahlen, schmucklosen Gang ein silberfarbener, metallener Kleiderkasten auf Rädern. Er war halb geöffnet, so konnte man die Smokings sehen, die darin hingen und die der Sänger eben noch im gleißenden Licht getragen hatte. Die Anzüge waren innen rot gefüttert, wie immer, und man wusste: Es waren seine. Sie warteten auf den Weitertransport, wie jede zweite Nacht auf dieser Tournee, die seine erfolgreichste werden sollte und seine letzte. Augenblicke später kam Udo Jürgens aus der Garderobe. Abgeschminkt wirkte er wie ein stattlicher alter Herr. Nach dem dreistündigen ausverkauften Konzert sah er abgespannt aus. Er begrüßte alte Vertraute und nahm mit müden Augen Huldigungen entgegen. Man spürte, dass ihm die Aufmerksamkeit und Zuwendung Mühe machte.

Das muss sie gewesen sein, die große Leere nach dem triumphalen Abgang, von der Udo in seinem Abschiedslied gesungen hatte und die auch Nikolaus Harnoncourt, der Dirigent, in einem seiner jüngsten Geburtstagsinterviews offenbart hatte. „Wie gehäutet bin ich da, schutzlos, da darf mir niemand begegnen oder es geschieht ein Unglück.“ Udo Jürgens sang in seiner letzten Zugabe darüber, weniger existenzialistisch, aber ähnlich eindringlich. „Zehn nach elf“ hieß das Lied, und die Verszeilen hallen nach: „Der letzte Ton gesungen / der letzte Akkord verklungen / fühl mich wie übrig geblieben“.

Es war nach Mitternacht, als der 80-Jährige in einem Innenstadt-Restaurant an die Melancholie des Schlussliedes anknüpfte. Eine so große Tournee, sagte er, werde er körperlich wohl nicht mehr verkraften können. Dann kam er auf das Drachen-Lied zu sprechen. Es erzählt von einem vermögenden Vater, der sein Leben dem Ziel unterordnet, den Reichtum einmal seinem kleinen Sohn zu übertragen. Der weist das Ansinnen zurück. Lieber hätte er mit ihm, dem Vater, einen Drachen gebaut. Udo Jürgens sang das Lied mit Tränen in den Augen. Das passiere ihm immer dann, bekannte er, wenn er beim Singen an das eigene Leben denke. In einem Interview hatte Jürgens Wochen zuvor davon gesprochen, Versäumtes nun, im Alter, nachholen und mehr Zeit mit seinen Kindern und Enkeln verbringen zu wollen. „Ich habe“, verriet der Sänger, „ein paar Warnschüsse bekommen, Schwindelattacken und solche Geschichten.“ Die Zeit war dem Reumütigen nicht mehr gegönnt.

Im Konzert hatte der Entertainer noch einmal die Spannweite seines Könnens sichtbar gemacht. Im Saal saßen Achtjährige und Achtzigjährige. Udo war die Antwort auf den Generationenkonflikt. Der Beglücker umschloss alle. Da mache einer nur Musik für Sachbearbeiterinnen, spotteten früher die Kritiker. Das Urteil war hochmütig und soziologisch falsch. Udos Publikum glich einem Konzentrat aller gesellschaftlichen Milieus. Spät anerkannte das Feuilleton, dass der Kärntner ein feiner Geschichtenerzähler war. Das machte ihn zum Kontinuum des deutschen Schlagers, den er über den Kitsch hinaushob. FM 4 widmete ihm Sonntagnacht eine Spezialsendung. Udo hätte sich gefreut.

Die Kunst des Storytellings war neben der Musikalität und Ausstrahlung Udos Kernkompetenz. Unter sein Erzähler-Dach konnten alle. Alte wie Junge, die Liberalen wie die Bürgerlich-Konservativen. Letztere erinnerte er nur an die Fassaden („ehrenwertes Haus“) und Fesseln und daran, dass es nie zu spät sei, sie abzustreifen. Udo Jürgens war ein famoser Lebensbejahungsprediger, ein Anselm Grün ohne Psalm. Das Ablegen der Zwänge, das er in den Liedern proklamierte, unterstrich er symbolträchtig mit der Wahl seiner Textilien: Nach und nach entledigte er sich der Sakkos und schloss in Jeans. So übersetzte er mehrheitsfähig sein Plädoyer für ein selbstbestimmtes Leben. Jürgens war ein emanzipatorischer Unterhalter.

In den Liedern trat der Sänger den Menschen als weiches Über-Ich entgegen, das gerne mahnt, aber nie straft. Wenn Udo seinen alarmistischen Öko-Song „Fünf Minuten vor 12“ sang, konnten auch Industriekapitäne schamfrei sitzen blieben. Seine Auftritte waren geprägt von einer wohldosierten Ambivalenz. Es stehe schlecht um die Welt, erfuhr man, aber dann folgte die Entwarnung in Form eines Appells an die Zuversicht: Schließlich gehe immer, immer wieder die Sonne auf. So blieb seine Nachdenklichkeit mehrheitsfähig: ein Aufklärer in C-Dur.

Udo Jürgens kannte wie kein anderer die Sehnsüchte der sogenannten kleinen Leute. Es gibt kein schöneres Eskapismus-Lied als das New-York-Lied, das, wo es im Stiegenhaus nach Spießigkeit riecht und der vorgetäuschte Ausritt zum Zigarettenautomaten zum großen, letztlich gezähmten Freiheitstraum gerät.

Es sind Lieder, die Identifikationsfläche für alle Lebenslagen boten, für das große Glück wie für das kleine Unglück, vor allem aber für die Sehnsucht nach dem Jungsein. Udo hielt sie jahrzehntelang wach. Seine Musik alterte zurück und eroberte die Diskotheken und Clubbings.

Udos Anleitungen zum guten Leben („leben, nicht funktionieren“) und seine leitmotivisch wiederkehrenden Aufrufe zu Aufbruch und Ausbruch mochte man schlicht nennen – und doch: Fand man sich in ihnen nicht heimlich wieder?

Viele seiner Schlager haben Eingang gefunden ins deutsche Volksliedgut. Das Vertraute der Lieder machte ihn zum Vertrauten, wenngleich das Vertraute der Klänge mitunter die Ernsthaftigkeit der Story zukleisterte. „Griechischer Wein“ bediente fälschlich die Sentimentalität deutscher Insel-Touristen, in Wahrheit ist es eine berührende Ballade über den Schmerz entwurzelter griechischer Gastarbeiter im Deutschland der 70er.

In einem „Zeit“-Interview zum 80. Geburtstag hat Udo Jürgens versucht, das Geheimnis seines Erfolgs zu entschlüsseln. „Wenn du auf der Bühne gewinnen willst“, sagte er, „musst du denken, du bist die Erdachse. Du musst das Gefühl haben, die Erde dreht sich jetzt an einer Achse, die du bestimmst, solange du hier stehst.“ Die Geologie des Triumphs: Er hat sie bis zuletzt gelebt. Das Vergängliche des Tuns blieb ihm stets bewusst. „Du gehst aus dem Theater raus, durch einen Hinterhof, und triffst auf irgendjemanden, der dich nicht kennt. Und du bist nichts mehr. Dieser Beruf lebt von der Erinnerung.“

Udo Jürgens starb gestern Nachmittag achtzigjährig bei einem Spaziergang in der Schweiz an Herzversagen.

Hubert Patterer