Die unvorhersehbaren Gefahren für die Menschheit, die jeder wissenschaftliche Fortschritt in sich birgt, sind Thema des 1962 uraufgeführten Dürrenmatt-Werks, das in Zeiten der Atombombenangst im Kalten Krieg wohl den Nerv der Zeit traf. Doch auch in einer von NSA-Überwachung und wieder aufgeflammten Ost-West-Konflikten geprägten Gegenwartsgesellschaft, die sich weniger vor Atomwaffen denn vor Terrorismus, Genmanipulation, Reproduktionsmedizin und Epidemien ängstigt, hätte dieses tragikomische Stück rund um den Physiker Möbius, der sich aus Angst vor den Folgen seiner Entdeckungen in einer psychiatrischen Anstalt versteckt, durchaus die Chance, aktuelle Grundfragen zu verhandeln. Stattdessen spult Elias Perrig den Text trotz einiger Striche beinahe ehrfürchtig ab und lässt seinen Akteuren kaum Chancen für (heutige) Interpretationen.

Dass diese "Physiker"-Inszenierung zwischen außer Kontrolle geratenem Kammerspiel, schlampigem Krimi und gähnender Langeweile pendelt, liegt an der völligen Abwesenheit jeglicher Dynamik. Dürrenmatts schräge Figuren, die allesamt ein Doppelspiel vollbringen, können sich im ersten Akt nur schleppend entfalten. Und so fallen die Masken nach der Pause im zweiten Akt dann auch etwas prompt. Als hätte man irgendetwas verpasst. Erst spät wird deutlich, wer auf welcher Seite steht - und bisher gestanden war. Da verwandelt sich der großartig fahrige, psychotische Thomas Kamper als Johann Wilhelm Möbius plötzlich in jenen genialen Physiker zurück, hinter dessen Entdeckungen gleich zwei Geheimdienste her sind.

Haben sich deren Vertreter doch auch seit geraumer Zeit in die von Fräulein Doktor von Zahnd geführte Psychiatrie-Villa eingeschlichen, in der Möbius vorgibt, von Erscheinungen des Königs Salomo geplagt zu werden. Haben sie sich noch kurz zuvor als geigenspielender Albert Einstein (Rainer Frieb mit - Überraschung! - zerzaustem Haar und Schnurrbart) und entrückter Isaac Newton (Erich Schleyer mit gelockter Langhaarperücke) ausgegeben, hantieren sie nun mit Faustfeuerwaffen und wollen Möbius zwingen, seine Erkenntnisse mit ihnen zu teilen. Alle drei haben jeweils einen Mord an ihren Krankenschwestern begangen, die ihrem Versteckspiel auf die Schliche gekommen waren. Dass es das Fräulein Doktor von Zahnd war, die all dies eingefädelt hat, um selbst an die Aufzeichnungen zu kommen, können sie einen Moment lang gar nicht fassen, bevor sie kollektiv beschließen, wieder in ihre Wahnwelten abzugleiten, um einer Verhaftung durch den entnervten Inspektor Voß (Thomas Bauer) zu entkommen.

Vera Borek, die in der Rolle der vom Leben benachteiligten, tatsächlich verrückten Anstaltsleiterin 74-jährig ein Comeback am Volkstheater gibt, sorgt mit ihrem kühlen Irrsinn für eines der Glanzlichter des Abends. Auch Claudia Sabitzer, die die Doppelrolle der gestrengen Oberschwester und der zum Hippie-Tum konvertierten Ex-Frau von Möbius spielerisch meistert, bildet einen würdigen weiblichen Gegenpart zum durchgeknallten Männer-Trio, dem Regisseur Perrig eindeutig zu wenig Entfaltungsmöglichkeiten zugesteht.

Und so bleiben "Die Physiker" im Volkstheater ein braves, fades Rezitieren eines Klassikers, dessen Inszenierung im Jahr 2014 einigen gestalterischen Muts bedürfte. Da reicht es nicht, wenn die muskulösen Pfleger am Ende die hässliche Folie (Bühne: Wolf Gutjahr) von den Holzwänden reißen, um die Künstlichkeit des ganzen Treibens zu illustrieren. Und so mischten sich einige Buh-Rufe für das Leading-Team in den kurzen, aber herzlichen Applaus für das Ensemble.