"Ordnung ist der Tod“, heißt es zugespitzt in Wolfgang Bauers Bühnenstück „Gespenster“. Der Satz fällt im Dialog zwischen einem Künstler und einem Intellektuellen, für die der Ordnungsrahmen gesellschaftlicher „Normalität“, das verfestigte, unhinterfragte Gefüge aus Konventionen, Verhaltensnormen und Rollenvorgaben, keinerlei Verbindlichkeit mehr besitzt. „Bürgerlichkeit“ als manifeste Erscheinungsform solcher Normalität stellt für sie kein Wertsystem dar, an das sie glauben, sondern ein Ensemble verbrauchter Rituale, das sie allenfalls ironisch herbeizitieren. So ein Zitat ist dann auch das „Bürgerspiel“, das die beiden im Verlauf des Stückes inszenieren. Fatal bloß, dass dieses Spiel zuletzt ein sehr reales Opfer fordert. Es erweist sich, dass die Ordnung ihre zerstörerische Wirkung selbst dort entfaltet, wo sie unterlaufen oder in Frage gestellt wird. Tödlich an den Ordnungen ist nicht zuletzt ihre Langlebigkeit.

Dieses Paradoxon kennzeichnet auch das Werk von Angelika Reitzer. Es umfasst bislang drei Romane und einen Erzählband, denen gemeinsam ist, dass sie die Wirkungsmacht überkommener Lebensordnungen und Systemzwänge zum Thema machen. Diese Wirkungsmacht ist natürlich längst keine ungebrochene mehr, sondern eine eingeschränkte, beschädigte, die sich nur deshalb behauptet, weil ihr Niedergang keine brauchbaren Alternativen hervorbringt.

In den Texten Angelika Reitzers dominieren gestörte und störbare Beziehungen, fluide und prekäre Verhältnisse. Es ist die schiere Unordnung, die sich da Bahn bricht, eine chaotische Ungewissheit, und obwohl sie gesucht und gewollt wird, weil sie Freiheit verspricht, lockt gleichzeitig das brüchige, aber unverwüstliche Sozialmodell der Familie mit seinen alten, beruhigenden Verlässlichkeiten.

Am Beginn des Romans „unter uns“ steht ein exemplarischer Vorgang: Eltern versammeln die Familienangehörigen zu einer Art Abschiedsfest. Sie wollen in den Ruhestand treten und sich nicht bloß aus allen beruflichen Verpflichtungen, sondern auch aus der Familie zurückziehen. Letzteres freilich will nur bedingt gelingen. Reitzers Bücher führen vor Augen, dass der Bann familiärer Strukturen nicht endgültig abzuschütteln ist. Unterschwellig wirkt er weiter: als Bedürfnis nach Halt, Geborgenheit und Identität, das in eklatantem Widerspruch steht zur diffusen Befindlichkeit von Reitzers Figuren.

Sie sind vielfach Familienflüchtlinge, geleitet von Sehnsüchten nach dem ganz „Anderen“, doch die Aufbrüche und Fluchten bleiben illusionär, münden in ein Niemandsland gelockerter Bezüge. So sehr in Ordnungen der Tod nisten mag, so wenig garantiert die Unordnung das Leben. Reitzers Figuren sind versehrt von Ungewissheiten. Die Verbindlichkeiten des Herkommens machen sich allenfalls noch als Erinnerungssplitter bemerkbar. Umgekehrt eröffnen auch die Wünsche keine haltbaren Perspektiven. So gesehen, sind sie Entwurzelte, beheimatet weder im Herkommen, noch in der Zukunft.

Diese rundum und gründlich gestörten Lebensordnungen finden ihren Niederschlag in der Form von Reitzers Texten. Sie folgten dem Grundsatz der Moderne, dass kein Ganzes behauptet werden kann, wo nur Fragmente sind. Klare Figurenprofile, feste Identitäten, nachvollziehbare Handlungsverläufe, das stabile Gerüst von Raum und Zeit wird man in diesen Texten vergeblich suchen. Stattdessen dominiert eine geradezu strategische Undeutlichkeit, ein streunendes Hin und Her zwischen den Zeiten, Räumen und Befindlichkeiten.

Es erweist sich, dass bei Angelika Reitzer nicht nur Lebens-, sondern auch Erzählordnungen zur Disposition stehen. „Plotorientierte“ Geschichten zu erzählen, sei für sie nicht mehr möglich, betont sie in einem Interview. Sie verstehe ihr Schreiben als einen Prozess des Suchens und Ausprobierens. Mit herkömmlichem Erzählen hat dies nur noch sehr wenig zu tun, und man wird es als subtilen Hinweis der Autorin deuten dürfen, dass in ihrem jüngsten Buch „Wir Erben“ nicht allein der Tod einer Figur vermeldet wird, wenn es – je nach Aussprache – mehrdeutig heißt: „Der Roman bzw. der Roman ist tot.“

Die bewusste Abkehr von der Totalität des Erzählens geht mit einer Qualität einher, die mittlerweile als „Markenzeichen“ von Angelika Reitzer gilt. Es sind die überscharf belichteten Details, luzide Miniaturen, denen vor dem Hintergrund verwischter Konturen besondere Leuchtkraft zuwächst. Aus allen denkbaren Zusammenhängen gefallen, stehen sie für sich. Und bilden damit die formale Entsprechung zu den seltenen Epiphanien des Hier und Jetzt, die Reitzers Figuren das Gefühl geben, für Augenblicke zur Ruhe gekommen zu sein im Schlingerkurs der Existenz.

„Was ist es, das einen atmen macht“, wird in Reitzers Debütroman „Taghelle Gegend“ gefragt. Die Antwort steht in Klammern, als gehöre sie nicht dazu, als müsste ihre Gültigkeit gleich wieder in Frage gestellt werden: „Eine Hand, die über eine Wange streicht zufällig und ohne dass etwas darauf folgen muss zwingend.“

Verwurzelt oder verweht

Buchkritik zu Angelika Reitzers jüngstem Roman "Wir Erben"

Mit ihrem Roman "Wir Erben" setzte sich die 1971 in Graz geborene Autorin Angelika Reitzer im Juni an die Spitze der ORF-Bestenliste. Auch die erschienenen Rezensionen waren großteils wohlwollend bis euphorisch. Also alles bestens? Nicht ganz. Denn das fast 350-seitige Buch ist zwar ohne Zweifel einem strengen Formwillen unterworfen, aber außerordentlich mühsam zu lesen.

Auf dicht beschriebenen Seiten entwickelt Reitzer nahezu absatzlos ein detailliertes Lebenspanorama aus der Provinz. Eine Baumschule im österreichischen Kaff Gumpenthal bildet das Zentrum der Aktivitäten von Hauptfigur Marianne, die den Betrieb von ihrer Großmutter übernommen hat und nach deren Tod auch den Familiensitz erbt. Es gibt jede Menge Familienmitglieder, über die man rasch den Überblick verliert. Reitzer ist alles gleich - nämlich gleich wichtig, und so herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, Besuchen und Abfahren. Immer wieder erkrankt jemand, Genesungen, Krisen und Todesfälle wechseln einander ab. Auffällig ist lediglich: Männer bleiben fast durchgängig Randerscheinungen.

Man versteht bald, dass die botanischen Metaphern der Verwurzelung, des weitverzweigten Beziehungs-Netzwerks, des naturgesetzlichen Aufs und Abs des Lebens den Konstruktionsplan des Romans darstellt. Gartenarbeit wird mit der gleichen Akribie beschrieben wie Gefühle, Pflanzen und Tiere, Dinge und Arbeitsvorgänge nehmen den gleichen Platz ein wie Menschen. Auch zeitliche Abfolge und Erzählerposition werden zu häufig gewechselt, um klare Orientierung zu bieten.

Der Verzicht auf die ordnende, in wichtig und unwichtig trennende Hand ist Programm: "Als die Maler endlich aus dem Haus waren, standen Finanzbeamte vor der Tür. Die konnte Marianne zwar direkt zu ihrem Steuerberater weiterschicken, aber deren Erscheinen hatte etwas Hinderliches, war etwas, das sie zurückhielt. Das Chaos in den Unterlagen. Nichts davon war akut relevant, dennoch sorgte sich Marianne, konnte sich nicht entscheiden, ob es gut war, dass die Prüfung vor der Testamentseröffnung stattfand (eher ja)." Man braucht guten Willen und einen langen Atem, bei solchen Passagen nicht aus dem Erzählfluss auszusteigen und das trockene Ufer aufzusuchen.

Nach fast zwei Drittel des Buches folgt Teil zwei und ein anderes Frauenleben. Es beginnt mit einer Rückkehr: Siri ist eine von zwei Töchtern einer Familie, die in den letzten Tagen der DDR in den Westen geflüchtet ist, dort jedoch nie Fuß fasst und sich entschließt, in ihr altes Leben zurückzukehren. Was naturgemäß unmöglich ist. Dass sich praktisch alles geändert hat, müssen sie erkennen, sobald sie ihr altes Haus wiederbetreten. Ihre besten Freunde haben es nicht gehütet, sondern geplündert. Die Konfrontation damit und die fast sprach-, jedenfalls verständnislose Wiederbegegnung mit dieser Familie, die ihnen ehemals so nahe war, ist der Höhepunkt des Buches. Hier ist die Genauigkeit, mit der jede Regung, jedes Detail dargestellt wird, am richtigen Platz und macht die große Tragödie in vielen kleinen Worten nachvollziehbar.

Im Gegensatz zur verwurzelten Marianne treibt es Siri ganz schön um. Scheinbar rastlos weht es sie um die Welt. Die zwei Biografien werden erst gegen Ende zusammengeführt, bei einer Begegnung auf der Damen-Toilette des Wiener Konzerthauses. Die beiden Frauen werden Freundinnen, entdecken Ähnlichkeiten ("Deshalb wundert es mich nicht, dass es Ihnen genauso geht, dass Sie Ihre Hausschuhe, Ihre Haus- und Hofschuhe, immer irgendwo liegenlassen.") und spielen mit dem Gedanken, wie es wäre, miteinander zu tauschen. Das wäre tatsächlich interessant. Da ist das Buch aber auch schon aus.

WOLFGANG HUBER-LANG/APA

Angelika Reitzer: "Wir Erben", Jung und Jung, 344 Seiten, 22,90 Euro, www.angelikareitzer.at