Vor einem riesigen Fenster, von dessen feuchten Scheiben Regentropfen perlen, tummeln sich winzige Gestalten. Paolo Fantin, der Bühnenbildner der ersten Inszenierung von Giacomo Puccinis Oper "La bohème" bei den Salzburger Festspielen, ließ sich offenbar von Jonathan Swifts Buch "Gullivers Reisen" inspirieren. Auch er stattet Zwergen und Riesen einen Besuch ab, denn im zweiten Bild, in dem ein moderner Stadtplan Paris als Handlungsort definiert, dienen geschrumpfte Bauten als Sitzgelegenheiten.

Den Eindruck, dass auf der Breitwandbühne des Großen Festspielhauses Ameisen agieren, verstärkte der Dirigent Daniele Gatti, der das Orchester über weite Strecken so laut musizieren ließ, dass die Sänger kaum vernehmbar waren und sich der Eindruck einstellte, man habe viel zu kleine Stimmen engagiert.

Ausgefeilte Details

Gatti schwelgte mit den Wiener Philharmonikern so sehr in den liebevoll ausgefeilten Details, dass er 110 Minuten für das Zelebrieren einer Partitur benötigte, die Arturo Toscanini, der Dirigent der Turiner Uraufführung, im Jahr 1896 in seiner Aufnahme zum 50. Geburtstag des Werks in 95 Minuten durchmessen hatte.

Gatti hielt aber das Sentiment in Grenzen, schuf im dritten Bild ein atmosphärisch dichtes Stimmungsgemälde und fand vor allem in den Liebesduetten des ersten und vierten Finales zu zerbrechlicher Zartheit.

Anna Netrebko dominierte als Mimi den Abend. Als Einzige hielt sie mühelos den Orchesterfluten Stand. Sie faszinierte mit blühenden Kantilenen und leuchtenden Höhen, spann aber auch sanfte Pianissimi aus.

Samtschön, ohne gefühlige Schluchzer und mit elegantem hohen C in seiner Arie sang Piotr Beczala den Rodolfo. Er nahm es in Kauf, dass sein schlank geführter Tenor bisweilen in den Orchesterwogen unterging und forcierte nicht, weil er offenbar die TV-Aufzeichnung im Auge hatte. Deren zeitversetzte Ausstrahlung brachte, wie der unmittelbare Vergleich zeigte, zwei erhebliche Vorteile gegenüber dem Live-Eindruck: Einerseits verhalf die Tontechnik den Stimmen zu einer Durchschlagskraft, die ihnen im Festspielhaus fehlte, und andererseits kaschierten die Nahaufnahmen die Schwächen der Personenführung.

Darstellerisch profilierte sich nur Nino Machaidze als Musetta, deren heller, zu Schärfen neigender Sopran perfekt zu ihrem Porträt einer kratzbürstigen Kokotte passte. Massimo Cavalletti als kerniger Marcello, Alessio Arduini als bisweilen sehnig aufdrehender Schaunard und Carlo Colombara als sonorer Colline bescherten Mittelklasseniveau.

Unpersönliche Kälte

Regisseur Damiano Michieletto wollte "das Lebensgefühl junger Menschen von heute" einfangen. Seine Verlegung der Handlung in das Paris der Gegenwart führt zu etlichen Kollisionen mit dem Text, seine Inszenierung lebt vor allem von den surrealen Bühnenbildern von Paolo Fantin. Die Regie des 37-jährigen Venezianers, der im zweiten Bild den Spielzeughändler Parpignol wie Superman über der bunt kostümierten Menge schweben lässt, bleibt weitgehend konventionell, gibt den Figuren kaum Profil. Ihr fehlen Poesie und Intimität. Sie vermittelt unpersönliche Kälte - und trifft damit exakt den Zeitgeist.