Die Wahrscheinlichkeit ein Lawinenunglück zu überleben, ist auf den ersten Blick recht hoch: Schließlich enden laut Statistik nur 23 Prozent tödlich. Während die Todesrate bei teilverschütteten Lawinenopfern bei rund vier Prozent liegt, ist sie bei komplettverschütteten mit 52,4 bedeutend höher. Die Überlebenschance nimmt laut Experten aber mit Dauer der Verschüttung diskontinuierlich ab.

"Tödlicher Knick"

"Nach 15 bis 20 Minuten unter einer Lawine gibt es einen steilen Abfall der Überlebenskurve", erklärte der Leiter des Instituts für Alpine Notfallmedizin an der EURAC in Bozen, Hermann Brugger, im Gespräch mit der APA. In der ersten Phase liegt sie noch bei 91 Prozent (neun Prozent sterben in dieser Zeit an mechanischen Verletzungen), anschließend trete ein "tödlicher Knick" ein und die Kurve sinkt rapide auf etwa 30 Prozent ab. In dieser Phase sterben alle Opfer mit verlegten Atemwegen an raschem Ersticken, erläuterte der Experte: "Grundvoraussetzung für das Überleben in dieser Phase sind freie Atemwege. Das Vorhandensein einer Atemhöhle ist ein zusätzliches Plus".

Die jüngsten Analysen hätten gezeigt, dass auch die Schneedichte eine Rolle spiele, sagte Brugger: "Denn in einem kontinentalen Klima wie in den Alpen fällt die Überlebenskurve nicht so rasch ab wie beispielsweise in der Nähe des Pazifiks". Dies habe eine kanadische Studie gezeigt. Auch aus den in den Alpen gewonnenen Erfahrungswerten ergebe sich, dass die Überlebenschancen im Frühjahr mit feuchtem Schnee bereits nach zehn bis 15 Minuten schnell sinken. Ein weiteres Phänomen sei, dass die Zahl der tödlich Verletzten zugenommen habe, meinte der Experte: "Das liegt aber daran, dass Wintersportler vermehrt in steilem und felsendurchsetztem Gelände unterwegs sind".

Vorsichtige Bergung

Neu sei auch, dass man bei einer Verschüttungsdauer von länger als 60 Minuten bei gleichzeitig freien Atemwegen und einer Körperkerntemperatur von unter 30 Grad neue Bergungs- und Behandlungsrichtlinien empfiehlt: "Das Lawinenopfer soll dann nicht so rasch, sondern so vorsichtig wie möglich geborgen werden". Die Behandlung der Unterkühlung sei dann vorrangig. Denn Opfer mit einer Körperkerntemperatur - diese wird in der Speiseröhre bzw. im Mittelohr gemessen - unter 30 Grad hätten bei einem Herzstillstand und einer anschließenden Reanimation eine bessere Überlebenswahrscheinlichkeit als Nicht-Unterkühlte. Der Sauerstoffbedarf des Körpers nehme nämlich mit der Abkühlung ab.

Kühlt ein Lawinenopfer zuerst ab und erleidet danach einen Herzstillstand, sei die Prognose deutlich günstiger. Vorausgesetzt beim Verunglückten werde eine kontinuierliche Reanimation durchgeführt und die Erwärmung erfolge anschließend in einer Klinik unter Einsatz einer Herz-Lungen-Maschine, verdeutlichte der Notfallmediziner.

Kurze Unterbrechung

Es habe sich zudem gezeigt, dass die Reanimation von schwer unterkühlten Lawinenopfern, also mit einer Körperkerntemperatur von 28 bis 20 Grad, zwischenzeitlich für den Transport unterbrochen werden könne. Beispielsweise könne so fünf Minuten reanimiert und dann eine fünfminütige Unterbrechung für den Transport gemacht werden, sagte Brugger: "Viele Lawinenopfer werden ja aus exponiertem und unwegsamem Gelände geborgen".

Die Erkenntnisse über die Behandlung von Lawinenopfern wurden von Hermann Brugger und Peter Paal ausgearbeitet und sind in die 2015 erschienen Richtlinien des European Resuscitation Councils eingeflossen. Brugger ist Leiter des Eurac-Instituts für Alpine Notfallmedizin in Bozen und arbeitet unter anderem als Bergrettungsarzt im Alpenverein Südtirol.