Frau Professor Perner, der Titel Ihres neuen Buches klingt wie ein Ratgeber: "Der einsame Mensch". Ist es aber nicht.

ROTRAUD A. PERNER: Der Verlag hat sich sicher einen Ratgeber vorgestellt, aber ich schreibe Sozialanalysen. Bei mir läuft das unter dem Titel Wissenschaftspoesie. Ich möchte, dass Menschen sich selber besser verstehen können und anderen Menschen das nicht antun, was krank macht; dass sie Möglichkeiten sehen, für sich selbst zu entscheiden, wie sie ihre Gesundheit fördern können. Die Märtyrerrolle ist verlockend.

Ist Einsamkeit nur negativ?

PERNER: Nein. Es ist ganz wichtig, den Ausgleich zu haben in einer schnelllebigen Zeit, in der wir so mit Reizen überflutet werden und auch manipuliert werden.

Sie schreiben, es hat jeder Mensch seine Biografie der Einsamkeit. Was meinen Sie damit?

PERNER: Es beginnt damit, dass wir geboren werden und uns einer ganz anderen Umwelt anpassen müssen. Das setzt sich fort. Wenn die Umwelt feindlich ist und einen ignoriert, ausgrenzt oder verspottet, dann wird man immer scheuer und zieht sich zurück. So übt man nicht die nötigen Verhaltensweisen ein, die man braucht, um Kontakt mit all dem aufzunehmen, was einen beglückt und bereichern könnte. Es gibt Leute, die selbst die Natur als Gesprächspartner nicht nützen können, weil sie es nie gelernt haben.

Kann man das nachlernen?

PERNER: Ja. Ich höre das immer wieder von Klienten: "Ich war verzweifelt und bin in den Wald gegangen. Auf einmal war das Gefühl von vorher weg und ich habe nur mehr wahrgenommen, gehorcht und geschnuppert." Genau darum geht es, die Welt wahrnehmen, empfinden zu können. Das muss erlernt werden.

Sie haben jetzt schon zwei Mal das Wort "lernen" genannt.

PERNER: Alles, was wir können, ist erlernt. Lernen bedeutet, neue Nervenverbindungen zu schaffen im Gehirn. Das ist etwas anderes als "pauken". Es geht darum, wahrnehmen zu können, also auch einen anderen Menschen zu spüren. Das gehört von klein auf trainiert.

Und wenn das nicht passiert?

PERNER: Wir wollen eingebunden sein in eine Gemeinschaft und wenn man die nicht hat, wird man krank oder verbittert. Oder man sucht eine destruktive Gemeinschaft, wo man diesen Hass herauslassen kann. Das ist die große Gefahr beim Faschismus.

Wie kann man den positiven Umgang mit Einsamkeit lernen?

PERNER: Zuerst muss man das Gefühl der Einsamkeit erkennen. Denn Einsamkeit ist ein Gefühl, im Gegensatz zum Alleinsein, das eine Tatsache ist. Einsamkeit ist eine Spirale, die ziemlich schnell in die Depression führen kann. Ich muss mich fragen, was hätte ich denn gerne?

Was sagen Ihre Klienten?

PERNER: Die meisten Leute hätten gerne jemanden, der sich um sie kümmert. Das ist der Wunsch des Babys. Sie fantasieren von jemandem, den es gar nicht gibt, haben völlig unrealistische Erwartungen. Die meisten Leute empfinden es als Beleidigung, dass sie nicht bekommen, was sie sich wünschen. Ich bekomme es aber nur dann, wenn ich selber daran arbeite und das heißt mühsame Abstimmung mit anderen. Deswegen ist es wichtig, dass man sich schon frühzeitig einen Freundeskreis schafft und den auch pflegt - wie einen Garten.

Die Flexibilisierung aller Lebensbereiche hilft dabei nicht sehr.

PERNER: Ich sehe die große Gefahr, dass ganz bewusst mit dem Verfügbarkeitsgebot über regionale Grenzen hinaus Bindungen zerstört werden. Den flexiblen Menschen kann ich heute nach Thailand versetzen und morgen nach Kanada. Wenn die Familie nicht mitgehen kann, dann findet man sich relativ schnell im Out. Bindung aber ist die Basis für Loyalität und Treue. Wir sehen, wo es hinführt, wenn Menschen Treue nicht mehr als Wert erkennen.

Mildern Tiere die Einsamkeit?

PERNER: Ich halte das Zusammenleben mit Tieren für ganz wichtig, weil Tiere sehr sensibel reagieren. Es ist nachgewiesen, dass sich der Blutdruck normalisiert und der Herzschlag ruhiger wird, wenn man ein Tier streichelt. Wir müssen uns eingestehen, dass wir ein Bedürfnis nach Berührung haben.

Das Internet erleichtert Kommunikation. Trügt der Schein?

PERNER: Es ist einerseits Pseudokommunikation, weil vieles wegfällt, was in der Live-Kommunikation möglich ist. Auf der anderen Seite ist es eine erste Übungsmöglichkeit, vorausgesetzt die Kommunikation ist ehrlich.

Benutzen Sie diese Medien?

PERNER: Ich verweigere Facebook und Twitter. Ich kriege selber so viele Mails von Leuten, die ich gar nicht kenne, und die ich immer zu beantworten versuche, dass ich das nicht erweitern möchte.

Können Social Media direkte Kommunikation ersetzen?

PERNER: Wir brauchen natürlich Körperlichkeit. Wenn wir die nicht haben, fallen wesentliche soziale Kompetenzen weg. Das sehen wir heute ja schon. Manche jungen Menschen haben wenig Gespür dafür, was für einen anderen respektlos oder verletzend ist. Sie sind ganz erstaunt, wenn man sie darauf hinweist. Das gehört in der Schule vermittelt.

Wie?

PERNER: Ich bin eine Befürworterin von Schulspielen, von Theaterspielen. Da kann man vieles im Nachhinein reflektieren.

Ihr Vater zitierte gerne Schiller: "Der Starke ist am mächtigsten allein." Welches Zitat würden Sie dem gegenüberstellen?

PERNER: Mein Lebensmotto stammt aus der "Antigone" von Sophokles und ist "Nicht mit zu hassen, mit zu lieben bin ich da."

Sie sprechen von der "Kunst des Sterbens", gibt es die noch?

PERNER: Ich hatte 2010 einen schweren Unfall, ich wusste nicht, ob mein Auto brennt und ich in ein paar Sekunden sterben werde, wenn das Auto explodiert. In diesen Sekunden habe ich mich aufs Sterben vorbereitet. Ich habe alle Formen der Entspannung, auch alle Gebetsmethoden, die ich erlernt habe, angewendet, um mich in diesen tranceartigen Zustand zu bringen, wo ich hinnehme, was jetzt passieren wird, und die Angst überwinde, transzendiere.

Sie betonen auch die spirituelle Komponente der Einsamkeit.

PERNER: Die meisten Leute werfen Religion, Theologie, Bekenntnis und Kirchenorganisation in einen Topf und haben zu wenig Anleitung bekommen, was es heißt, sich mit der ganzen Schöpfung zu verbinden. Das meint ja Religion eigentlich. Es wäre so wichtig, sich stärker auf die Seele, das Empfinden zu konzentrieren. Das muss eingeübt werden.

Sprechen Sie das Thema an bei Ihren Klienten?

PERNER: Ja, dann öffnen sich die Leute. Da besteht ein großer Bedarf, aber viele schämen sich, es zuzugeben. Wir leben in einer religionsfeindlichen Zeit.

Das Schamgefühl hat sich von Sexualität auf Religion verlegt.

PERNER: Bei der Sexualität gibt es fast kein Schamgefühl mehr, die ist kommerzialisiert. Bei der Religion ist es - mit wenigen Ausnahmen - nicht so. Am Erfolg der Gregorianischen Choräle der Heiligenkreuzer Mönche merkt man, dass die Leute die Botschaft sehr wohl verstehen.

Reden Kirchen zu viel von Moral, zu wenig von Spiritualität?

PERNER: Es ist wichtig, sich auch mit den moralischen Inhalten auseinanderzusetzen. Der Inhalt ist ja schwer in Ordnung, aber die Form ist manchmal unerträglich, weil sie autoritär vermittelt wird. Das ging vor hundert Jahren, wo die Leute ungebildet, gebrochen und gekrümmt waren. Heute wehren sie sich dagegen, wenn sie das Gefühl haben, sie sollen klein gemacht werden. Es gibt aber Augenblicke, wo man die Kleinheit wirklich spürt: in allen transzendenten Situationen, bei Todesnähe, aber auch bei großer Liebe. Deswegen ist es so wichtig, nicht nur sterben zu lernen, sondern auch lieben zu lernen - und da kann man mit der Natur anfangen.