Frau Joeres, Gratulation zur Geburt Ihres zweiten Kindes! Sie schreiben in Ihrem Buch „Vive la famille“, dass die Franzosen Sie mit ihrer Leichtigkeit angesteckt und Lust auf Nachwuchs gemacht haben. Wie machen die Franzosen das?

ANNIKA JOERES: Ich glaube, sie sind es einfach gewohnt, von Kindern umgeben zu sein. Die meisten stammen ja selbst aus Familien mit vielen Kindern und es gibt zwei Dinge, die ihnen das Leben erleichtern. Einmal die großen staatlichen Angebote, die durchschnittlich von 7.30 Uhr bis 20.00 Uhr abends geöffnet sind, wo alle Kinder einen Platz finden. Dazu haben wir auch ein gut ausgebautes Tagesmutternetz. Der zweite Teil ist: Die Franzosen machen sich einfacher weniger Sorgen um den Nachwuchs.

Viele warten immer auf den perfekten Zeitpunkt, um ein Kind zu bekommen – ist das in Frankreich nicht so?

JOERES: Franzosen bekommen in Situationen Kinder, wo die Deutschen und die Österreicher noch lange grübeln würden, ob es passt – sie warten auf den besseren Job oder auf den perfekteren Partner. Kinder gehören im Leben der Franzosen dazu und sie gehen immer davon aus, dass sich alles zum Besten wenden wird. Das ist diese Leichtigkeit, die ich meine, womit sie mich auch angesteckt haben.

Die Journalistin und Autorin Annika Joeres
Die Journalistin und Autorin Annika Joeres © (c) Rebecca Marshall

Sie schreiben, dass es typisch für die Französin ist, nicht alles perfekt machen zu wollen.

JOERES: Viele sagen, ich kann mir nicht noch ein Kind vorstellen, wenn ich da wieder für drei Jahre fast alles aufgeben muss. Das sind halt sehr große Einschnitte und das haben die Französinnen nicht. Französinnen kümmern sich sehr warmherzig um ihr Kind, aber auch noch um sich selbst. Dieses Frühförderdogma, das in Deutschland herrscht – in Frankreich vertraut man einfach der Einrichtung. Wenn das wirklich so durchschlagen würde, hätten Sie in Österreich ja lauter Mozarts oder Schopenhauer.

Werden Kinder sehr früh in die Kinderkrippen gegeben, plagt viele Eltern das schlechte Gewissen. Oft hört man: „Warum hast du ein Kind bekommen, wenn du dich dann nicht darum kümmerst?“

JOERES: Das schlechte Gewissen dominiert für viele Frauen und daraus entsteht sehr viel Stress. Das Gefühl der permanenten Unzulänglichkeit, dass man bei der Arbeit alles leisten muss, die eigenen Interessen ganz hintanstellt, dem Kind muss es gut gehen – das ist etwas, was die Franzosen deutlich weniger quält. Die Franzosen denken: „Das Kind hat in der Kinderbetreuung einfach eine gute Zeit und ich habe das als Kind ja auch schon so erlebt.“

Ist es nicht herzzerreißend, das Kind schon so früh jemandem Fremden anzuvertrauen?

JOERES: Der Mutterschutz ist mit zehn Wochen sicher sehr kurz und auch viele Franzosen sagen, dass es zu kurz ist. Die wenigsten geben das Kind nach zehn Wochen ab, durchschnittlich passiert das nach vier bis fünf Monaten – so habe ich das auch gemacht bei meinem ersten Sohn. Mein zweiter Sohn wird dann mit sieben Monaten in die Kinderkrippe kommen. Es ist sonst einfach auch zu hart für die Mütter und für den kleinen Säugling.

Wie wird die Qualität in den staatlichen Kinderkrippen und Kindergärten Frankreichs sichergestellt?

JOERES: In Frankreich sind sich die Kinderkrippen alle sehr ähnlich, das wird von Paris aus gesteuert. Sie haben auch ungefähr dasselbe Tagesprogramm, es wird meist auch vor Ort gekocht. Es gibt überall die gleiche Anzahl an Erzieherinnen, diese müssen studiert haben und sie werden auch besser bezahlt als in Deutschland – das führt auch dazu, dass es einen großen Andrang auf diese Posten gibt. Es gibt weniger Auswahl als in Deutschland – das ist einerseits bedauerlich, andererseits muss man sich auch nicht auf die quälende Suche begeben.

Grundsätzlich wird in Österreich von Eltern – meist sind es die Mütter – erwartet, sich in Kindergärten, Schulen etc. einzubringen.

JOERES: Backen und Kochen, Weihnachtssterne basteln, Frühlings- und Sommerfest – das fällt hier weg. Ich wüsste auch nicht, wie das mit meinem Job vereinbar wäre. Hier wird von den Eltern nicht mehr erwartet, als dass man das Kind pünktlich bringt und noch die Windeln mitgibt. Die Weihnachtsfeier fand bei uns Freitagabend statt und niemand musste da etwas mitbringen.

Kritisch hinterfragt: Werden Kinder im französischen Modell an den Rand des Alltags gedrängt, damit die Eltern ganztags für die Arbeitswelt verfügbar sind? Wie geht es Müttern, die ihr Kind selbst erziehen wollen und die Zeit mit dem Kind verbringen möchten?

JOERES: Das ist auf jeden Fall die große Ausnahme. Hier kommen schon Kommentare wie „Du bindest deine Tochter zu sehr an dich“ oder „Das Kind muss ja in die Gemeinschaft“ – da ist es halt andersrum. Weil das so selten ist und fast niemand kennt, wird das sehr argwöhnisch beäugt.

Sie zitieren in Ihrem Buch die französische Philosophin Élisabeth Badinter, die sich gegen den Druck, der auf den Müttern lastet, wehrt. Ist es ein Rückschritt in der Emanzipation, wenn man sich mehr auf das Kind einlässt und das eigene Tempo des Kindes in den Mittelpunkt stellt?

JOERES: Ich glaube, solange man das freiwillig macht, ist das in Ordnung. Ein Rückschritt ist es dann, wenn insgesamt die gesellschaftliche Stimmung herrscht, diese ganzen Erwartungen zu erfüllen. Wenn das Ideal aufkommt, dass die Mutter die ganze Zeit für das Kind da ist. Die Frau muss sich entscheiden, was das für sie bedeutet, für die berufliche Laufbahn oder für die Rente. Badinters These ist – und das ist durch Studien bewiesen –, dass es in Ländern, in denen der Mutterkult so hochgehalten wird, – wie in Deutschland oder Österreich – es am wenigsten Kinder gibt.

Welche Rolle nehmen die Väter in der Grande Nation ein?

JOERES: Mein Mann sagte einmal, er sei froh, dass ich ebenso viel arbeite wie er – so hat er für unsere Söhne den gleichen Stellenwert. Und das ist wahr: Wenn Mütter und Väter gleichberechtigt arbeiten können, ist das auch ein Geschenk an die Papas. In Frankreich sind viele Väter sehr präsent. Das liegt auch an der französischen 35-Stunden-Woche, die Familien mehr Zeit schenkt.

Wie feiern die Franzosen den Muttertag?

JOERES: Also eigentlich bekommen die meisten Frauen Blumen und Geschenke von den Männern – aber insgesamt ist das keine große Sache, diesen Mutterkult gibt es hier nicht.