Sebastian Kurz und die Leute rund um ihn haben sich nicht erst gestern aufgeschwungen, die Partei zu erneuern. VOm "Evolutionieren" der ÖVP war bisher die Rede. Nun ist es doch eher eine "Revolution" geworden.

Und Kurz ist wohl auch nicht eine Art Erdogan, dem es um die Macht an sich geht. Die jüngsten Ereignisse so zu interpretieren, wäre zu kurz gegriffen.

Was will Kurz?

Er ist nicht der erste, der zur Erkenntnis gelangt ist, dass mit den Parteien alten Zuschnitts kein Staat mehr zu machen ist, aber er  fällt mit seiner Initiative in eine günstigere Zeit.

Der erste war Jörg Haider. Er nahm seine Bewegung und ging. Wie das Experiment mit dem "Bündnis Zukunft Österreich" endete, ist bekannt. Dort, wo Haider unmittelbar Zugriff auf Menschen und Organisationen hatte, in Kärnten, gelang es. Dort, wo sein langer Arm nicht hinlangte, scheiterte er, im Rest Österreichs.

Es war vor der Erfindung der soziale Medien.

Die nächsten, die Veränderungsbedarf erkannten, waren die Sozialdemokraten. Sie basteln seit Jahren an neuen Ideen, mit dem Ziel, Nicht-Parteimitglieder ein Stück des Weges mit ihnen gehen zu lassen. Zwei Dinge fehlten bislang: Die zündenden Ideen, die diese Menschen angezogen hätten wie die Motten das Licht, und der Mut, ohne Hinsichtln, Hersichtln und Rücksichtln solche Ideen und Personen durchzusetzen und ins Rampenlicht zu stellen.

SPÖ-Chef Christian Kern versuchte es zu Jahresbeginn mit einem Neustart: Er griff die Ideen auf, die man in vielen Gesprächsrunden aufgesammelt hatte und denen denen die eigenen Leute zustimmten und verwandelte sie im Rahmen wohl inszenierter Auftritte in "Geschichten" mit dem Ziel, die Menschen emotional anzusprechen und zu überzeugen.

Jetzt kommt Kurz.

Die junge Garde, die rund um den ambitionierten Außenminister tätig ist, erkannte offensichtlich: Die Daten sind das neue Gold. Es war nicht schwer, auf diese Erkenntnis zu kommen: Insbesondere der US-Wahlkampf zeigte, in welche Richtung es geht. Und viele Junge gerade auch in der ÖVP schielen seit Jahren auf die Vereinigten Staaten, um dort zu lernen, wie man als wahlwerbende Partei wieder Masse machen kann.

Haider hatte die Kontakte - und er agierte sehr geschickt auf dem Klavier der Massenmedien.

Die SPÖ hatte ihre Mitglieder - und hat seit einem Jahr einen - immer noch - zugkräftigen Mann an der Spitze, Christian Kern.

  • Die ÖVP hat die Mitglieder - und zwar nicht nur die Daten der Mitglieder der Partei sondern auch jene ihrer vielen Bünde,  Teilorganistionen und verbundenen Verbände, die weit über die Partei hinaus reichen.
  • Die ÖVP hat nicht nur die Massenmedien zur Verfügung, sondern weiß, dass strategische Kommunikation über soziale Medien diese daten in Stimmen verwandelt. Wie in den USA, wo dies Donald Trump und seinem Team zuletzt maximal gelang.
  • Und die ÖVP hat mit Sebastian Kurz einen noch unverbrauchteren Shootingstar als die SPÖ, der jetzt alles auf eine Karte setzt.

Der bisherige Nachteil der Volkspartei, das  Verpflichtetsein gegenüber so vielen Gruppen und Institutionen mit Eigeninteressen, soll jetzt zum Vorteil verwandelt werden: Mit Blick auf den möglichen Erfolg sollen die Eigeninteressen hintangestellt, die eigenen Strukturen zur Verfügung gestellt werden, um den Erfolg zu maximieren.

Bleibt die Frage: Erfolg für wen?

Klar ist allen Beteiligten: Zum Gipfelsturm ansetzen kann die ÖVP nur mit Sebastian Kurz. Er ist zum Siegen verdammt: Wird er nicht Kanzler, sind er - und mit ihm die neue ÖVP - politisch tot.

Falls die Rechnung aufgeht: Was kommt danach?

Die Granden stimmten zu, nach einer langen Durststrecke sehen sie den Sieg schon vor Augen. Die Frage, wer am Tag danach was genau mit dieser Macht anfangen wird und wo sich jene, die von der Säule der ÖVP zum Instrument werden, danach wiederfinden, blieb offen.

Der Abschied von innerparteilichen Verpflichtungen ist ein Befreiungsschlag für den Ersten, aber gleichzeitig ein Hochseilakt: Es geht um die Erwartungen der Funktionären, und um jene der Wähler. 

Die Daten der Wähler sind das neue Gold. Ein ausreichender Vorrat an Gold lässt sich in die Währung der Politik, in Stimmen, wechseln. Aber ausgezahlt hat sich das am Ende des Tages erst, wenn es gelingt, diese Stimmen in Projekte zu investieren, die sich rechnen. Eine Politik also, die so erfolgreich sind, dass sie weiter Stimmen bringt.

Als Grundlage für solche Projekte galten in der Politik bisher Programme, die verinnerlicht wurden, weil sie durch demokratische Prozesse entstanden. Die gemeinsamen Überzeugungen sind der Kitt von Parteien in aufgeklärten Demokratien, die auch Wähler anziehen und binden.

Die innerparteiliche Demokratie hat Kurz im Handstreich abgeschafft, es sind nicht mehr die gemeinsam erarbeiteten Inhalte, die motivieren und binden.

Die Alternative: Innerhalb eines Listenwahlrechts, das Kandidaten bisher davon ausgehen lassen konnte, dass ihnen der Platz an der Sonne sicher ist, wenn die Partei ein entsprechendes Ergebnis schafft, haben Kurz und sein Team offenbar vor, ein leistungsorientiertes Modell zu installieren, das den Kandidaten ihre Mandate nur sichert, wenn sie dem "Kanzlerwahlverein" - weit über bisherige Vorzugstimmenmodelle hinaus - ausreichend Stimmen bringen.

Die ÖVP wird zu einer Partei, die sich selbst auf einen Kandidaten zuschneidert, und deren Funktionäre daran gemessen werden, welchen Leistungsnachweis in Gestalt von Vorzugsstimmen sie persönlich erbringen. Das Wort "Führerpartei" nimmt man ungern in den Mund, aber dass das neue Regime Personen über Programm stellt, ist offensichtlich.

Mit dem, was sie ihren Wählerinnen und Wählern versprechen, sind aber auch die künftigen Mandatare diesen Wählern in der Pflicht. Zu Ende gedacht ergibt sich aus diesem Wandel das Problem, dass es ein künftiger Kanzler, der sich selbst über alles stellt, künftig mit vielen anderen gemeinsam regieren muss, die dasselbe tun. Das, was jetzt auf den ersten Blick als Befreiung erscheint, könnte also mit neuen Fesseln verbunden sein.

Und noch ein Problem haben Parteien, die sich bedingungslos einer Person unterordnen, noch nicht gelöst. Kommt diese Person abhanden, wird aus alles plötzlich nichts.