Frühmorgens hallt lautes Hämmern durch die Gassen von Wittenberg. Diesmal nagelt kein Furchtloser seinen theologischen Zorn an das Schlosstor. Es sind die Bauarbeiter, die dem berühmten Städtchen, das 1989 in die Mitte Deutschlands rückte, den letzten Schliff verpassen. Die Stadtkirche St. Marien, wo Martin Luther zum ersten Mal deutsch predigte, war zu Zeiten der DDR ein „finsteres Loch“, erzählt Pfarrerin Kristin Jahn, „jetzt strahlt sie wieder“. Auch die Schlosskirche mit dem Grabmal Luthers ist nach langer Renovierung wieder frei zugänglich. Vor dem eisernen Thesentor, einer Nachbildung, buhlen Fotografen um den besten Platz. Historiker zweifeln, ob der Abtrünnige 1517 hier tatsächlich aktionistisch zu Hammer und Nägeln griff. Gut möglich, dass er die Thesen gegen den Ablasshandel von Studenten verteilen ließ. Der Wirkungsmacht des Widerstands tat es keinen Abbruch. Dass die Bewegung bis in den hohen Norden reichte, davon zeugen schon die ersten Gäste. Zur Einweihung der Schlosskirche erschien das schwedische Königspaar, zuvor hatte sich die dänische Königin Margrethe eingefunden und ein selbst gesticktes Altartuch mitgebracht.

Eine Million Besucher werden 2017, zum Fünfhunderter der Reformation, in der sächsischen Kleinstadt erwartet. Mit ähnlichen Zahlen rechnet man an den anderen Wirkungsstätten: im Augustinerkloster in Erfurt, der geistigen Heimat Luthers, im Geburts- und Sterbeort Eisleben und natürlich auf der Wartburg bei Eisenach, dem Zufluchtsort. Eine viertel Million wird in Wittenberg allein der Abschlussfeier auf der großen Wiese an der Elbe beiwohnen, mit Blick auf die Silhouette der Stadt. Es sind Größenordnungen, die das Vorstellungsvermögen vieler Wittenberger übersteigt und wohl auch die Kapazitäten der verträumten Stadt. Das schmucke Luther-Hotel, das den Namensgeber in Bronze an der Rezeption lebensgroß zur Schau stellt und am Abend bei Kerzenlicht zum „Luther-Schmaus“ auf Jute-Tüchern lädt, wird den Ansturm nicht stemmen können. Die Organisatoren bitten die Bürger, freie Zimmer zu vermieten. Ausrangierte Plattenbauten aus der DDR-Zeit sollen als Jugendherbergen dienen. Notfalls will man die Besucher überreden, in Berlin zu logieren und mit Sonderzügen anzureisen.

Keine "deutsche Feier"

Margot Käßmann, Botschafterin des Gedenkjahres, sitzt in ihrem Berliner Büro und skizziert ihre Erwartungen: Das Gedenkjahr müsse einen europäischen Horizont aufspannen, von Genf über Prag bis nach Wittenberg, und dürfe keine „deutsche Feier“ werden, auch keine trotzig protestantische. Käßmann hofft auf einen geschwisterlichen Aufbruch beider christlichen Kirchen, die durch die Folgen der Säkularisierung gleichermaßen in Bedrängnis sind. Keinesfalls wolle man der Versuchung erliegen, das Jubiläum durch einen zügellosen Luther-Kult zu banalisieren.

Der hehre Anspruch wird nicht leicht einzulösen sein. Man weiß an den Pilgerorten um das monetäre Potenzial der Marke Luther. Die Brauerei in Wittenberg führt Luther-Bier. Restaurants werben mit „Luther-Nudeln al dente“. Souvenirläden bieten Ablassbriefe an. Dritte-Welt-Läden verkaufen fair gehandelten Luther-Kaffee aus Nicaragua. Die Wartburg offeriert rezeptfrei Lutherol-Arznei: „Was Luther Seele und Körper verschrieben hätte“. Und in Eisleben küssen evangelikale Amerikaner das Taufbecken des Reformators. Es wird nicht einfach sein, den Star des Festreigens tiefer zu hängen und den Blick auf den Kern, die Notwendigkeit steter Erneuerung, zu richten. Kult und Kommerz wollen mitfeiern.

Ungewöhnliche Weggemeinschaft

„Wir wollen keine Luther-Festspiele und keinen nostalgischen Reliquienkult“, betont Österreichs evangelischer Bischof Michael Bünker und zieht im Verlies der Wartburg ein Schwert aus dem Schaft einer Kreuzritter-Figur. „Ich bin ein Fantasy-Freak und liebe dieses Zeug aus dem Mittelalter.“ Gemeinsam mit dem katholischen Bischofskollegen Manfred Scheuer aus Linz ist er zu einer Reise ins Kernland der Reformation aufgebrochen. Beide sind in ihren Kirchen für die Ökumene zuständig. Es ist eine ungewöhnliche Weggemeinschaft. Unter Benedikt, dem Vorgänger des Papstes, wäre sie in dieser zeichenhaften Offenheit wohl nicht denkbar gewesen, merkt ein Mitglied der Delegation flüsternd an. Die Überwindung des Konfessionalismus, hier im mitteldeutschen Flachland mit seinen entvölkerten Dörfern, wo sich vor lauter Abgeschiedenheit nicht einmal die riesigen Windräder zu bewegen wagen, haben die beiden das Aufeinanderzu eingeübt: Seite an Seite hielten die Bischöfe vor dem Grabmal Luthers inne und haben sich in der Wittenberger Stadtkirche vor Cranachs Reformationsaltar zur Andacht eingefunden. Das berühmte Bild zeigt das Letzte Abendmahl ohne Jünger und Heiligenschein, stattdessen egalitär mit gewöhnlichen Wittenbergern: ein radikales politisches Statement, noch heute.

Auf der Fahrt im Bus loten die Bischöfe die Rollenverteilung für den großen ökumenischen Gottesdienst Anfang Dezember in Linz aus, live zu sehen im deutschen Fernsehen. Ein Sonntagvormittag ist es, der nach katholischer Lehre der Eucharistie vorbehalten ist. Die Kardinäle beider Länder, Marx und Schönborn, mussten der Abweichung ihren Segen geben, heißt es: diskreter Tanz um die Klippen, die auch der runde Geburtstag nicht begradigt.

"Luther ist kein Heiliger"

Jetzt sitzen Scheuer und Bünker im Keller der mächtigen Burg und erproben die Festigkeit des gemeinsamen Bodens, auf dem das Gedenkjahr gebaut sein soll. Von draußen sind vielsprachig die Stimmen der Reiseführer zu hören, überlagert von den Arbeiten der Restauratoren. Auf dem Turm weht die deutsche Fahne im Herbstwind, daneben leuchtet golden das Kreuz. Scheuer räumt ein, dass seine Kirche mit dem Wort „feiern“ hadere. „Die Spaltung der Kirche bleibt eine Wunde, die es zu betrauern gilt.“ Eine Heilung des Gedächtnisses tue not. Das bedinge, einzubekennen, was man aneinander hat und einander angetan habe. Das sieht auch Bünker so: „Wir sollten einander unsere Schuld eingestehen.“ Das Gedenkjahr dürfe nicht zu einer Heroisierung verkommen, es wäre unevangelisch. Bünker: „Luther ist kein Heiliger.“ Seine antisemitischen Ausfälle seien schändlich. Man empfände noch heute Scham darüber.

Am Reformator könne man eine Menge über das heikle Verhältnis zwischen politischer Macht und Religion ablesen und aus den Vereinnahmungen lernen, findet Scheuer. In den 500 Jahren ist Luther zu allen Jubiläen politisch instrumentalisiert worden: Erst war er der idealisierte Vorbote der Aufklärung, dann preußischer Nationalheld und später, als es finster wurde, der „große ultimative Deutsche“. Im DDR-Kommunismus schmolz der querstehende Mönch und sechsfache Familienvater zum „Fürstenknechten“, in der Gunst abgelöst vom radikalen Flügel der Reformation, dem „Sozialrevolutionär“ Thomas Münzer. Diesmal will man auf der Hut sein und jeder Vereinnahmung widerstehen. Erstmals in der Trennungsgeschichte soll ein Reformationsjubiläum im Zeichen der Ökumene stehen und nicht vom Geist der Abgrenzung getragen sein. Bünker: „Es ist zu wenig, wenn Evangelische sagen, ich bin nichtkatholisch, das Beharrende genügt nicht. Wir feiern etwas, das als Auftrag vor uns liegt, er lässt sich nur in solidarischer Zeitgenossenschaft erfüllen. Wir brauchen einander, gerade in Zeiten der Säkularisierung. Wir haben die Chance, im anderen zu sehen, was uns selbst fehlt.“

"Trennung mitbefeuert"

Luther habe die Spaltung nicht gewollt, beteuert Bünker. Ein ordentliches Konzil habe er erwirken wollen, das auf seine Kritik eingeht, aber „sein Konzil“ habe er wohl erst im Zweiten Vatikanum bekommen. Da mag der Katholik Scheuer nicht widersprechen. In einer Deutlichkeit, die man so noch nicht vernommen hat, bekennt der Bischof die Mitverantwortung seiner Kirche am Bruch der Einheit ein. „Sie hat sich durch die Verweigerung der Erneuerung mit schuldig gemacht und damit die Trennung mitbefeuert.“ Was als Lernerfahrung bleibe: „Ohne Reformen kommt es irgendwann zur Reformation, im Sinne von Bruch und Spaltung.“

Man spürt beim Zuhören, wie sehr sich das Luther-Bild in der katholischen Kirche versöhnend gewandelt hat. Der Abtrünnige wird nicht mehr als Antipode wahrgenommen, sondern als schmerzhafter Teil des eigenen Selbst. Einen „von Gott Ergriffenen“ nennt ihn Scheuer, dann wieder „Zeuge des Evangeliums“ und „Erneuerer des Glaubens“. In den furiosen Schriften erlebe er Luther, der unweit des Verlieses in einer Schreibstube als Edel-Gefangener das Neue Testament ins Deutsche übersetzte, als „Sucher zwischen „Angst, Schrecken und Vertrauen“. In diese Ambivalenz stimmt der Tischnachbar gerne ein: „Luthers Grobianismus“, sagt Bünker, „ist manchmal abstoßend und dann wieder faszinierend.“

Die beiden Bischöfe äußern sich dankbar darüber, was in der Ökumene geglückt sei. Das schließe die Achtung vor der Verschiedenartigkeit mit ein. Scheuer: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht übergriffig werden und uns wechselseitig vereinnahmen. Wir sind eh schon eins.“ Dem pflichtet Bünker bei: „Wenn Katholiken evangelischer würden und die Evangelischen katholischer, brächte uns das weiter? Ich glaube nicht.“

Im Angesicht des Abgrunds

In den Luther-Hochburgen von Thüringen und Sachsen stellen sich derlei Fragen freilich nicht mehr. Hier ist nichts mehr da, wo man Unterscheidungslinien ziehen könnte. Hier hat sich alles Kirchliche entmaterialisiert. In Magdeburg leben neun Prozent Protestanten und ein Prozent Katholiken: ein konfessionelles Niemandsland. „Da kann man nicht einfach feiern“, berichtet der katholische Bischof Gerhard Feige in seiner Residenz, die an ein Dissidenten-Büro im früheren Ostblock erinnert, und entzündet eine Kerze. „Was wollen Sie da feiern? Da geht es um mehr, um das Sein der Kirchen. Wir sind die Ersten, die die Kirchenspaltung überwinden werden, wenn es so weitergeht. Weil nichts mehr da ist, das die Spaltung aufrechterhält.“ So hat es die Not mit sich gebracht, dass Fronleichnams-Gottesdienste mit Mitra, Stab und Weihrauch ersatzweise im evangelischen Dom gefeiert werden, dass zur katholischen Taufe in Ermangelung von Ressourcen der evangelische Posaunenchor ausrückt und Neujahrsreden oder Petitionen gegen die AfD gemeinsam vorgetragen werden. Im Angesicht des Abgrunds werden Berührungsängste hinfällig.

Wenn in den kommenden Monaten täglich Tausende Besucher aus aller Welt spirituell inspiriert zu den Luther-Stätten aufbrechen, werden sie auf eine konfessionell ausgetrocknete Steppe treffen. Der Mega-Event und die Wüste - ein bizarres Aufeinandertreffen. „Die meisten Leute sind religiös naturbelassen“, sagt Bischof Feige, „sie suchen auch nichts. Sie sind gottlos glücklich.“ In dieser Haltung offenbare sich eine religiöse Resistenz. Viele Bürger in den ehemaligen Ostländern, ausgenüchtert und armutsgefährdet, verteidigen ihre areligiöse Rationalität als Rest ihrer Identität. Sie sagen: „Ihr im Westen habt uns alle Sicherheiten niedergerissen. Die Jungen sind weg, die Betriebe auch. Jetzt lassen wir uns unsere Gottesferne nicht auch noch nehmen!“

"Generation hat vergessen, dass sie Gott vergessen hat"

In der Gegend um Wittenberg zählte man Anfang der Fünfzigerjahre noch neunzig Prozent Protestanten, heute sind es zehn. Der Anteil der Katholiken liegt bei vier Prozent. In vielen Gemeinden finden nur noch alle paar Wochen Gottesdienste statt. Die wenigen Kirchgänger halten sich über SMS am Laufenden. Es gibt Bewohner, die seit Jahrzehnten in den Dörfern leben, aber noch nie ihre Kirche betreten haben. Sie will man jetzt flächendeckend öffnen und mit Konzerten „niederschwellige Einladungen“ aussprechen. Das Service-Personal in der Gastronomie erhält Crashkurse im konfessionellen Einmaleins. Die Bediensteten sollen wenigstens auf einfachste Fragen von Besuchern Antwort geben können. „Es ist die vierte Generation ohne Anknüpfung an irgendeine Form von Religion“, erzählt Pfarrerin Jahn, „sie hat vergessen, dass sie Gott vergessen hat.“

Von den zweieinhalbtausend Evangelischen ist die Hälfte über siebzig. Die meisten Jungen sind nach der Wende aufgebrochen und haben ihr Glück in München, Stuttgart oder in Tiroler Urlaubertälern versucht. Zurückgekehrt sind wenige. „Von der Generation, die ich nach 1989 hier konfirmiert habe, habe ich keinen mehr gesehen. Die sind alle weg“, erzählt Superintendent Christian Beuchel. Die wenigen Unverdrossenen, Frauen zumeist, füllen sonntags die ersten beiden Kirchenbänke. Viele haben sich schon zu Zeiten der Diktatur kirchlich und politisch engagiert und haben der Repression widerstanden. Zu Weihnachten meiden sie die Kirche, die das eine Mal randvoll ist. Sie sind noch nicht so weit, Gemeinschaft mit jenen zu feiern, die sie bespitzelt und der Stasi ausgeliefert haben. Lieber kommen sie am Stefanitag und holen Weihnachten nach, wenn die anderen fort sind.

Der Acker zwischen religiösem Vakuum und der Last der Vergangenheit ist das Feld, das die Wittenberger Pfarrerin täglich bestellt. Jahn stellt sich der Aufgabe mit anmutiger Unerschrockenheit. Sie müsse achtgeben, dass sie „im Sog der Begeisterung“ nicht fundamentalistisch wird. Sie sehe nicht die Tristesse der 15 Prozent Christen, sondern die 85 Prozent als Potenzial. Jahn fängt religionspädagogisch bei null an und erklärt Mitbürgern die Taufe. Dass sie etwas sei, „wo man sich nicht hineinverdienen muss“. Da horchen sie auf. Wo nichts ist, erwacht die Neugier leichter. Wiewohl: „Wenn du vor ein paar Dutzend Gläubigen predigen musst, mitten im Winter in der kalten Wittenberger Kirche, da fühlt man sich schon allein, das muss man aushalten.“ Sie bleibt zuversichtlich: „Ein volles Schiff bespielen kann jeder.“