Am zehnten Tag der Straßenproteste in Armenien hat sich die Lage bedrohlich zugespitzt. Mit Härte versuchte die Polizei am Sonntag, die Kundgebungen gegen den neuen Ministerpräsidenten Sersch Sarkissian aufzulösen. Fast 230 Menschen wurde festgenommen, darunter der Anführer der Proteste, der Oppositionsabgeordnete Nikol Paschinian.

Gleichzeitig strömten in der Hauptstadt Eriwan und an anderen Orten des Landes im Südkaukasus immer mehr Demonstranten zusammen. Es ist die größte Protestwelle in einer Ex-Sowjetrepublik seit der pro-europäischen Maidan-Bewegung in der Ukraine 2013/14.

In der Früh war ein Treffen zwischen Paschinian und dem Regierungschef gescheitert. Sarkissian brach das Gespräch nach zwei Minuten ab, weil Paschinian seinen Rücktritt forderte. "Das sind keine Verhandlungen, das ist kein Dialog, dass ist Erpressung der gesetzmäßigen Staatsmacht", sagte der Ministerpräsident vor laufenden Kameras.

Die Proteste waren vorletzte Woche ausgebrochen, weil Sarkissian (63) nach zehn Jahren als Präsident die Macht in Armenien nicht abgegeben hat. Stattdessen ließ er sich zum Regierungschef wählen. Dieses Amt hat durch eine Änderung der Verfassung mehr Macht bekommen.

"Ich denke, dass Sersch Sarkissian jemand anderem Platz machen sollte", sagte der Student Artiom Simonian der Deutschen Presse-Agentur. "Er hat das Land schon zehn Jahre geführt, aber der Bevölkerung geht es nicht besser", meinte der 19-Jährige. "Überall herrscht Korruption, aber die Staatsmacht täuscht den Kampf dagegen nur vor", sagte der Marketing-Spezialist Suren Spandarian (38).

Am Samstagabend hatten sich nach Augenzeugenberichten etwa 40.000 Menschen in euphorischer Stimmung im Zentrum Eriwans versammelt. "Die samtene Revolution ist unumkehrbar, ihr Sieg ist unabwendbar", sagte Paschinian. Der Vorsitzende der Oppositionsfraktion Elk (Ausweg) traf auch kurz mit dem neuen Präsidenten Armen Sarkissian zusammen. Der Staatschef rief alle Seiten zu Mäßigung auf.

Bei dem fruchtlosen Gesprächsversuch am Sonntag erinnerten Sarkissian und Paschinian einander an das Blutvergießen in Armenien von 2008: Damals waren bei Protesten gegen die Wahl von Sarkissian zum Präsidenten zehn Menschen getötet worden. Paschinian war damals schon als Regierungsgegner aktiv gewesen. Die armenische Staatsanwaltschaft bestätigte am Sonntag die Festnahme Panschinians und zweier Parlamentskollegen wegen Verstößen gegen die öffentliche Ordnung. Über die Aufhebung ihrer Immunität muss das Parlament entscheiden.

Sarkissian stammt wie andere führende armenische Politiker aus dem zu Aserbaidschan gehörenden Gebiet Berg-Karabach. Er hat im Krieg um diese Region von 1992 bis 1994 Karriere gemacht. Truppen der Armenier halten seitdem Berg-Karabach und weite Teile Aserbaidschans besetzt. Doch der Dauerkonflikt ist auch eine schwere Bürde für das kleine Land mit nur knapp drei Millionen Einwohnern. Auch mit der Türkei ist Armenien verfeindet. Es kann letztlich nur auf die große Zahl an Auslands-Armeniern und auf Russland als Schutzmacht zählen.