In Ihrem Buch „Meine algerische Familie“ beschreiben Sie Algerien anhand einer Familie, mit der Sie seit Jahrzehnten befreundet sind. Erschreckt oder freut Sie die Entwicklung, die das nordafrikanische Land macht?
ALICE SCHWARZER: Sie beunruhigt mich. Denn die Lage in Algerien ist alles andere als stabil. Gleichzeitig macht sie Hoffnung. Algerien ist heute das einzige muslimische Land auf der Welt, das nicht droht, in einen „Gottesstaat“ zu kippen. Die Algerier sind gefeit gegen die islamistische Propaganda, weil sie in den 90er-Jahren ihr „Syrien“ hatten.

Inwiefern?
SCHWARZER: Über 200.000 Tote in dem von den Islamisten angezettelten Bürgerkrieg. Also gilt für sie: Nie wieder! Gleichzeitig sind die Algerier dank ihrer Geschichte ein politisch sehr bewusstes Volk: Die Befreiung von den französischen Kolonialherren 1962 haben sie sich selbst zu verdanken, danach wurden sie zum „Mekka der revolutionären Welt“. Gerade Algerien hätte also die Chance, ein demokratisches muslimisches Land zu werden. Es droht aber auch Chaos. Denn das Massaker der „Gotteskrieger“ hat das Volk traumatisiert und lässt heute viele in den Glauben flüchten. Und die Regierung ist schwach und korrupt. Darum muss Europa Algerien dringend wieder entdecken: die demokratischen Kräfte stärken, die Wirtschaftsbeziehungen intensivieren.


Ihre Freundin Djamila ist eine moderne Frau und Journalistin, die mehrere Jahre in Köln im Exil leben musste. Sie sagt, dass es beim Algerischen Frühling 1988 gekommen sei wie beim Arabischen Frühling ab 2010. Die Menschen forderten Demokratie, bekamen aber Islamisten. Was sind die Gründe dafür?
SCHWARZER: Der sogenannte Arabische Frühling war eine Falle. Ein paar gut meinende Freiheitsliebende sind darauf reingefallen. Aber die Strippenzieher waren von Beginn an die Islamisten. Sie waren es, die von dem Machtvakuum und dem Chaos profitiert haben, denn sie sind top und international organisiert. Und sie wissen, was sie wollen: den Gottesstaat. Dass im Westen nur sehr wenige das durchschaut haben, ist zum Verzweifeln. Längst sehen die meisten Menschen in Ländern wie Ägypten, Tunesien und Syrien es so, dass die alten autokratischen Herrscher das kleinere Übel waren. Was nicht heißt, dass man es dabei belassen sollte – nur brauchen wir für Veränderungen wirklich starke demokratische Kräfte.


Sie zitieren im Buch Algerier, die erklären, dass es keine Notwendigkeit zur Flucht gebe. Die dunklen Tage seien vorbei, doch die Jugendarbeitslosigkeit sei ein Problem. Ist das so?
SCHWARZER: Gott sei Dank gibt es in Algerien keinen Grund mehr zur Flucht. Die Fanatiker sind in Warteposition, die Minderheit der Terroristen wird von der Polizei in Schach gehalten. Seit zehn Jahren hat es keinen islamistischen Anschlag in Algerien gegeben. Auch die Todesstrafe ist seit zehn Jahren nicht angewandt worden. Die meisten Algerierinnen und Algerier sind sehr tolerant, es gibt ein Nebeneinander von Kopftuch und Minirock – wenn auch der Druck gerade auf die Frauen steigt. Und es gibt wirtschaftliche Probleme. Jeder Vierte unter 30 ist arbeitslos. Auch darum sind Unruhen und eine Radikalisierung zu befürchten. Im Frühling 2019 sind Wahlen: 65 Parteien stehen zur Wahl, davon sind zehn offen islamistisch. Der Westen muss darum Algerien die Hand reichen! Muss zeigen, dass das nordafrikanische Land zu uns gehört. Algerien ist das größte afrikanische Land und geopolitisch gesehen ein Schlüsselland.


Djamilas Bruder Hocine hat in Brüssel und Paris gelebt und erklärt: „Algerien ist heute ein Pulverfass. Ein Funke genügt.“ Ihre Fotografin Bettina Flitner hat mit ihm ein Foto in Paris gemacht: Er wirkt stolz, aber auch verloren. Warum so verloren?
SCHWARZER: Diese algerische Verlorenheit hat mit der Entwurzelung in der Kolonialzeit und den Auf und Abs seither zu tun. Hocine, dieser Sohn analphabetischer Eltern, hat noch als Schüler gegen die Kolonialherren gekämpft, er war als Journalist in China, er war Buchhändler in Paris und ist heute gläubig und in seine Heimat zurückgekehrt. Das ist viel für ein Leben.


Viele Täter in der schockierenden Kölner Silvesternacht 2016 kamen aus Algerien und Marokko. Ihre algerischen Freunde sagen: „Wir sind froh, dass die jetzt bei euch sind.“ Zucken Sie da zusammen?
SCHWARZER: Ich zucke zusammen – und ich bin erleichtert zugleich. Denn diese perspektivelosen Burschen, die da in Köln gewütet haben, sind auch für die Algerier nicht die Norm. Sie stehen in einer tief patriarchalen Tradition, in die die Propaganda der Islamisten einen Funken geworfen hat, Stichwort: Ihr braucht keine Bildung, ihr werdet eh Gotteskrieger! Ihr seid nicht klein, ihr seid größer als jede Frau und jeder „Ungläubige“! Und: Frauen, die abends auf der Straße sind, sind Schlampen oder Huren und haben es nicht besser verdient!


Drei Viertel der Algerier sind unter 35, wie Ihr Liebling in Ihrer algerischen Familie, Ghanou. Ein gebildeter Bursche, aber auch er hätte lieber eine weniger emanzipierte Frau. Weshalb ist das so?
SCHWARZER: Die Idee einer Gleichheit der Geschlechter ist ja auch bei uns noch nicht so alt. In Deutschland durften Frauen bis 1976 nur mit Erlaubnis ihres Ehemannes berufstätig sein. Und das Gesetz wurde auch nur unter dem Druck der Frauenbewegung geändert. Wir Feministinnen haben, zusammen mit Millionen aufgewachter Frauen und Männer, erst in dem letzten halben Jahrhundert die Akzeptanz der Gleichheit der Geschlechter erkämpft. In Ländern wie Algerien hat es eine solche feministische Revolution nicht gegeben. Noch nicht.


Sie warnen immer wieder vor einer muslimischen Gesellschaft. Was genau ist es, wovor Sie warnen?
SCHWARZER: Ich habe noch nie vor einer „muslimischen Gesellschaft“ gewarnt. Ich warne vor dem politisierten Islam, den Islamisten, den „Gottesstaaten“. Und deren erste Opfer sind nicht wir, sondern sind die Mehrheit der nicht radikalen Muslime und Musliminnen. Wie in Algerien.
In Algerien treffen sich Frauen auf den Dächern. „Die Dächer sind die Plätze der Freiheit für Frauen“, schreiben Sie. Das war bei den Frauen-Protesten im Iran nicht anders. Wieso ist das Dach für Frauen so gut?
Das Dach war traditionell oft der einzige Ort, von dem aus die ins Haus gesperrten Frauen den Himmel sehen konnten. Und diese Verhältnisse wollten die Islamisten wieder einführen.


Sie warnen vor falscher Toleranz des Westens gegenüber Islamisten. Was befürchten Sie?
SCHWARZER: Ich befürchte Verhältnisse wie im Iran, von wo aus die islamistische Offensive 1979 ausging. Und wo von Anbeginn die Entrechtung der Frauen im Fokus stand und das Kopftuch die Flagge der Islamisten war. Und in der Tat fällt seither ein muslimisches Land nach dem anderen in die Hände der Islamisten, und es steigt der Druck in den muslimischen Communitys in Europa.


Sie haben sich bei Ihrer algerischen Familie gut eingefügt, haben zugeschaut, wie erst die Männer ihr Essen bekamen, dann die Frauen, schön getrennt. Bekommt man da als Alice Schwarzer nicht einen Blutrausch?
SCHWARZER: Nein, das wäre doch arrogant. Man muss die Menschen doch immer in ihrem Kontext sehen. Auch Europa hat sehr lange gebraucht, bis für eine Mehrheit die Demokratie und die Gleichberechtigung der Geschlechter selbstverständlich waren. Und Länder wie Algerien brauchen nun auch ihre Zeit für ihre Entwicklung. So etwas lässt sich nicht oktroyieren. Manchmal ist ein kleiner Schritt schon gewaltig.