Sechs Tage lang schwieg er zu den Unruhen. Nun meldete sich der Oberste Revolutionsführer Ali Chamenei zu Wort. Das nächtliche Aufbegehren tat er in einer Rede vor Kriegerwitwen ab als eine Verschwörung der „Feinde des Irans“. Kein Wort zu den Rufen der Demonstranten nach mehr Freiheit und sozialer Gerechtigkeit oder zur Kritik an der kostspieligen Präsenz Teherans in Syrien, Jemen, Libanon oder Irak. „Ich werde zur gesamten Nation sprechen, wenn die Zeit dafür reif ist“, beschied Chamenei und ließ offen, ob das Regime in den nächsten Tagen mit aller Härte gegen Demonstranten vorgehen wird oder nicht.

Die Unruhen erfassen immer weitere Teile des Landes. Mindestens 22 Menschen sind bisher gestorben. Den schwersten Zwischenfall gab es im Städtchen Qahderijan nahe Isfahan. Dort wurden sechs Demonstranten erschossen, als eine Menge versuchte, die örtliche Polizeistation zu stürmen und Waffen zu erbeuten. Für Irans Hauptstadt Teheran, wo im Juli 2017 ein Reformer zum Bürgermeister gewählt wurde, kündigten die Revolutionären Garden an, man werde dem Geschehen nicht weiter tatenlos zusehen und gegebenenfalls in eigener Regie für Ordnung sorgen.

Zuvor hatte Präsident Hassan Rohani bereits zweimal über die Medien versucht, Entgegenkommen zu signalisieren. „Die Menschen wollen über Wirtschaftsprobleme reden, über Korruption und den Mangel an Transparenz beim Agieren mancher Organe, und sie wollen eine offenere Atmosphäre“, schrieb er via Twitter.

Hohe Arbeitslosigkeit

Bisher sind die meisten Demonstranten junge Männer zwischen 20 und 30 Jahren, die aus einfacheren und armen Schichten kommen. Die Arbeitslosigkeit unter ihnen liegt bei 40 Prozent. Trotzdem wurden Anfang Dezember im jüngsten Staatshaushalt die Mittel für Sozialhilfe gekürzt, während religiöse Stiftungen und revolutionäre Organisationen üppige Summen erhielten. Denn als Rohani 2013 ins Amt kam, erbte er vom Vorgänger Mahmud Ahmadinedschad leere Kassen, obwohl der Ölpreis in dessen acht Amtsjahren auf einem Rekordhoch lag. Schätzungsweise 200 Milliarden Dollar sind zwischen 2005 und 2013 spurlos aus dem Staatshaushalt verschwunden. Gleichzeitig schufen sich die Revolutionsgarden ein schwer durchschaubares militärisch-industrielles Imperium, das weite Teile des Wirtschaftslebens kontrolliert und ein Quasi-Monopol bei lukrativen Staatsaufträgen hat.

Aber auch Irans Hegemoniepolitik im Nahen und Mittleren Osten kostet enorme Summen und geht zulasten der Bevölkerung, ohne dass diese irgendein Mitspracherecht hat. Im syrischen Bürgerkrieg ist die Islamische Republik mit mindestens 10.000 Bewaffneten involviert. Die Dollar-Gehälter von Abertausenden irakischen Schiiten, die für Baschar al-Assad kämpfen, werden ebenfalls von Teheran bezahlt. Schätzungsweise 2000 vom Iran entsandte Soldaten sind gefallen, die Hälfte von ihnen gehörte den Revolutionswächtern an. Die andere Hälfte waren zwangsrekrutierte afghanische Flüchtlinge. Und so wundert es nicht, dass Demonstranten Bilder von General Ghassem Soleimani zerrissen. Der 60-Jährige kommandiert die in Syrien operierende al-Quds-Brigade, das Auslandskorps der Garden.

Anders als 2009 beim Aufbegehren durch die grüne Bewegung beteiligt sich diesmal auch die Landbevölkerung an den Protesten. In halb Iran herrscht Wassernotstand, der nach Meinung von Experten wie Ex-Landwirtschaftsminister Isa Kalantari in den nächsten beiden Jahrzehnten ein Dutzend der 31 Provinzen unbewohnbar machen könnte. Verheerende Sandstürme gehören zum Alltag, der Grundwasserspiegel sinkt, die Brunnen versiegen. Immer mehr Familien müssen ihre Felder aufgeben. Sie wandern in die Städte ab, an deren Rändern sie fortan ein Slum-Dasein fristen. Zwar hat Rohanis Regierung die Wasserkrise vor drei Jahren zur innenpolitischen Priorität erhoben, doch eine Trendumkehr ist kostspielig.
Genauso wie bei den Bürgerrechten und der allgegenwärtigen Bevormundung durch die Moralwächter. „Ihr benutzt die Religion und ihr habt das Volk ruiniert“, skandierten die Demonstranten, eine Kritik, die sich gleichermaßen an die klerikalen Hardliner wie an die Regierung richtet. Schon zur ersten Amtszeit 2013 hatte der Präsident eine Grundrechte-Charta versprochen, die die Willkürmacht der islamischen Herrschaft begrenzen sollte. Im Gegenzug machten die Hardliner in der Justiz mobil. Die Zahl der Hinrichtungen kletterte auf Rekordniveau, politische Aktivisten wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt. „Ich habe keine meiner Versprechungen vergessen“, warb Rohani vier Jahre später erneut. Die Iraner glaubten ihm, verhalfen ihm im Mai 2017 zum zweiten überwältigenden Sieg und wurden wieder enttäuscht.

Ein paar Konzerte mehr sind erlaubt, auch hält sich die Sittenpolizei bei Party-Razzien zurück. Doch von grundsätzlicher Öffnung der Gesellschaft kann keine Rede sein. Die inzwischen veröffentlichte Grundrechte-Charta hat keine Gesetzeskraft. Und vor den Revolutionsgerichten herrscht dieselbe Willkür wie eh und je.
Die Unruhen im Iran flauen nicht ab - vor allem in der Provinz. Sehnsucht nach Öffnung und Wohlstandsteilhabe treibt die Massen an.