Balletttänzerin wäre sie gerne geworden, sagt Angela Merkel. Oder Schwebebalkenturnerin. Mit zehn oder elf Jahren seien das ihre Berufswünsche gewesen. Sie sitzt auf einer Theaterbühne in Berlin. Das Publikum lacht. Vielleicht stellen sie sich vor, dass sich diese Frau von ihrem Platz erhebt und auf Spitzenschuhen Pirouetten dreht. Merkel ist stattdessen Kanzlerin geworden, Balanceakt in der Politik statt im Ballettröckchen. Zwölf Jahre lang macht sie den Job nun und will gerne noch vier weitere anhängen. Sie liegt vorne in den Umfragen, ihr Sieg gilt als sicher. Aber wie ein feiner Schleier liegt die Nervosität über dem Wahlkampf und der CDU-Spitzenkandidatin.

Es ist Sommer, die Frauenzeitschrift „Brigitte“ hat eingeladen. Merkel sagt, sie habe das mit dem Ballett irgendwann abgehakt: „Man muss sich mit seinen Beschränkungen abfinden.“ Männliche Politiker erzählen vom Fußball. Merkel erzählt von frühen Bewegungsmisserfolgen. Sie ist ungewöhnlich mitteilsam vor der Wahl.

Bei Youtube sagt sie mit keckem Lächeln, dass sie per Handy Smileys verschickt, freundliche, und auch solche „mit Schnute“, wenn einmal etwas nicht gut laufe. Keine grimmigen allerdings. Wohin diese Smileys gehen, muss man sich selbst überlegen. „Da können Sie träumen“, sagt die Kanzlerin in diesem Sommer ebenfalls in einer ungewöhnlichen Anwandlung von Poesie - allerdings redet sie da seltsamerweise über das Wahlprogramm ihrer Partei und neben ihr steht CSU-Chef Horst Seehofer.

Merkel & Seehofer

„Wie groß ist der Unterschied zwischen Ihnen und Horst Seehofer?“, fragt der 13-jährige Franz bei einer Veranstaltung im Wahlkampfhaus der CDU. „Er ist 30 Zentimeter größer“, sagt Merkel. Geschickt herausgemogelt. „Wir haben manchmal unterschiedliche Ansichten. Aber das Gemeinsame überwiegt“, fügt sie dann hinzu. Es sind ihre üblichen Sätze zu dem Thema. Irgendwo muss es bei Politikern Reflexknöpfe geben, die Satzbausteine freigeben. Dem sechsjährigen Justus antwortet sie auf die Frage nach der Lieblingsfarbe: „Die Farbe vom Rittersporn.“ Als Sechsjähriger hat man es auch nicht einfach mit so einer Kanzlerin.

30 Zentimeter Unterschied also. Wenn das alles wäre. Ein paar Meter stand sie hinter Seehofer auf diesem Parteitag vor zwei Jahren und es wirkte wie der Auftritt vor einem Scheidungsrichter. Es gab den Streit um die Flüchtlinge. Merkel hatte gesagt: „Wir schaffen das“ und die Grenzen nicht geschlossen, weil sie darin keine Lösung, sondern nur eine Verschiebung des Problems sah. Seehofer war anderer Meinung. Merkel hielt eine Rede, die wenig werbend war. Seehofer übernahm das Mikrofon, redete und ließ Merkel einfach stehen. Sie wirkte immer kleiner. Der Streit zog sich weiter. Sie verschärfte zwar ihre Politik, widersprach ihm aber bei seinem Lieblingsthema Obergrenze. Es war ein öffentliches Armdrücken, tobend Seehofer, kühl sie. Mittlerweile schwärmt der CSU-Chef wieder von Merkel.

Im Zentrum: Die Flüchtlingspolitik

Die Flüchtlingspolitik hat Merkels dritte Amtszeit geprägt, sie hat der Kanzlerin eine neue Facette hinzugefügt, eine emotionale, warmherzige. Die kühle Machtstrategin, die Stoikerin war sie bis dahin gewesen, die in der Finanzkrise die Ruhe behielt und im Ukrainekonflikt nächtelang versuchte, den russischen und ukrainischen Präsidenten zu einem gemeinsamen Beschluss zu bewegen. Eine umständliche und technokratische Rednerin auch, die ihren durchaus vorhandenen Sprachwitz morgens in die Jausenbox zu packen schien, als Notration für die Pause. „Wenn ich im Kochtopf rühre, sagte ich nicht: Die Kanzlerin rührt im Kochtopf“, hat sie gesagt. Bei den Reden scheint ihr Gedanke sehr wohl zu sein: „Die Kanzlerin hält eine Rede.“ Mit dem Zusatz: „Alle berücksichtigen, nicht anecken, Auswege offenhalten.“

Noch Wochen vor dem „Wir schaffen das“ hatte Merkel sich noch den Vorwurf mangelnder Sensibilität eingehandelt, als sie der palästinensischen Schülerin Reem sagte, ihre Aufenthaltsunsicherheit als Kanzlerin nicht ändern zu können, weil es eben Gesetze gebe. Reem brach in Tränen aus.

Es gab andere Bilder, auf die sie sich immer wieder bezieht. Die Schiffe voller Flüchtlinge, die im Mittelmeer sanken. In Deutschland wüteten Demonstranten vor Flüchtlingsheimen. Merkel befand, wenn man sich dafür entschuldigen müsse, ein freundliches Gesicht zu zeigen, sei das „nicht ihr Land“. Das Land wurde überspült von Emotionen: Zugewandtheit und Hilfsbereitschaft bei den einen, Furcht und Aggression bei den anderen. Sie reisen Merkel nun hinterher im Wahlkampf. Sie pfeifen und schreien. Sie finden die Kanzlerin nicht warmherzig, sondern irrational und gefährlich. Merkel sagt, Deutschland habe lange von der Globalisierung profitiert und müsse nun mit einer Folge der Globalisierung fertigwerden.

Freiheit vor Sicherheit

Freiheit ist ein wichtiger Begriff für Merkel, sie zieht ihn dem der Sicherheit vor. Immer wieder erzählt sie, dass sie als junge Erwachsene in der DDR damit rechnen musste, erst im Rentenalter richtig reisen zu können. Dass sie da gelernt habe, vorsichtig zu formulieren, weil einen feine Andeutungen schon zum Klassenfeind machten. Sie war eher angepasst in der DDR, eine Wissenschaftlerin mit Expertise für den Zerfall von Kohlenwasserstoffmolekülen. Im Forschungsinstitut hat sie ihren zweiten Ehemann, den Chemieprofessor Joachim Sauer kennengelernt. Als ihr schönstes Erlebnis hat sie das bezeichnet, so eine öffentliche Liebeserklärung hat man bisher noch nicht gehört. Ihr Privatleben hält sie ganz klar privat. Ab und zu kommt Sauer mit auf Reisen, jedes Jahr begleitet er sie zu den Wagner-Festspielen.

Was sie sich politisch so überlegt, ist oft nicht so klar, zumindest nicht von vorneherein. Es ist eher eine reaktive Kanzlerschaft, die Merkel pflegt. Die erste Amtsperiode dominierte die Finanz- und Bankenkrise. Die zentralen Beschlüsse der folgenden Regierung waren nicht vorgesehen: Diese kassierte zunächst den rot-grünen Ausstieg aus der Atomkraft. Nachdem ein Tsunami 2011 in Fukushima ein AKW zerstört und einen Landstrich unbewohnbar gemacht hatte, sagte ausgerechnet die Physikerin, ihr sei die Zerstörungskraft der Atomkraft nicht klar gewesen. Innerhalb weniger Tage gab es einen strikteren Ausstiegsplan als unter Rot-Grün. Mit ihrem Pragmatismus ist Merkel ziemlich gut gefahren, sie hat den konkurrierenden Parteien ihre Themen abgegraben. Sie müsse eben immer alles erst genau durchdenken und dann ihre Entscheidung treffen. Es gibt die, die finden, sie warte vielleicht oft mehr, als zu denken.

Zum vierten Mal

In ihre Entscheidung einer vierten Kandidatur wird viel hineingespielt haben. Auf der einen Seite die Erinnerung an Helmut Kohl, der seiner Partei nach 16 Jahren zur Bürde wurde. Der Gedanke ans Älterwerden. Selten hat Merkel so häufig auf die Gesundheit verwiesen. Auf der anderen Seite: der noch nicht ausgestandene Streit um die Flüchtlingspolitik, die fehlenden personellen Alternativen in der CDU. Und natürlich das Interesse an der großen Politik. Für die Tage nach der Wahl hat sie sich etwas Kleineres vorgenommen: Erdäpfel ernten im Garten in der Uckermark. Das muss in jedem Fall sein.