Herr Nizon, Sie sind gebürtiger Schweizer und leben als Schriftsteller seit mehr als 40 Jahren in Paris. Sie haben an der Stadt immer die Offenheit geschätzt: Ist das vorbei?

Paul Nizon: Nein, überhaupt nicht. Ich könnte mir keine andere Heimstatt wünschen als Paris. Auch die positiven Gründe für mein Dasein in Paris sind aktuell wie eh und je. Aber dass ein Wagen einfach an einem vorbeirast und Menschen regelrecht ummäht oder jemand in einer belebten Straße mit einer Kalaschnikow herumschießt wie nun, das führt natürlich zu einer Panik unter den Menschen. Und genau das bezwecken die Attentäter ja auch, die mit Terror Propaganda für den IS machen wollen. 

Der amerikanische Soziologe Randall Collins sagt, eine Gesellschaft brauche sechs bis neun Monate, um nach einem schweren Attentat zum Normalzustand zurückzukehren. Paris hat nun den sechsten Anschlag innerhalb von drei Jahren erlebt: Steht die Bevölkerung unter einer Daueranspannung?

Paul Nizon: Nein, überhaupt nicht. Die Panik greift immer nur punktuell um sich. Im Stadtbild ist nichts zu verspüren von einer Nation im Kriegszustand. Natürlich steckt auch eine Taktik dahinter. Diese Attentate richten sich ja auch immer gegen die Lebensweise im Westen, gegen die Demokratie, gegen die republikanische Gewohnheiten. Und diese fanatisierten Theokraten richten sich mit voller Wucht gegen diese Lebensweise. Das ist auch jedem Franzosen bewusst, und dagegen kämpfen auch viele an, indem sie sich in ihrem Alltagsleben nicht unterkriegen lassen. Ich sehe jedenfalls überhaupt keine Anpassung an das Terrorgeschehen.

Hat der jüngste Terroranschlag in Paris Einfluss auf die Präsidentschaftswahl am Sonntag?

Paul Nizon: Ja, das denke ich schon. Der Terroranschlag wird den Rechtsextremen nützen, die mit autokratischen Vorgehensweisen liebäugeln: Grenzen schließen, alle vorsichtshalber gleich ins Gefängnis stecken, Todesstrafe wieder einführen - kurz, alle diese braunrüchigen Maßnahmen. Natürlich kommen die Attentate der rechten Ideologie des Front National und Marine Le Pen entgegen. Aber warten wir es ab, denn letztlich bin ich doch gespannt, wie sich das Wahlvolk verhalten wird.

Besteht Marine Le Pens Erfolg nicht auch darin, dass sowohl die linken als auch die konservativen Parteien in Frankreich zerbröselt sind?

Paul Nizon: Wahlstrategisch ist das sicherlich eine Schwäche, intellektuell ist die Vielfalt allerdings eine Stärke.

Aber besteht nicht die Gefahr, dass der Bevölkerung auf ihrer Wanderung zwischen links und rechts der Kompass verloren geht?

Paul Nizon: Meine Erfahrung ist eher die, ohne etwas verherrlichen zu wollen, dass das französische Wahlvolk einigermaßen intelligent agiert und nicht so leicht blendbar ist. Die Neigung zu den simplen Lösungen à la Marine Le Pen ist ja schon jahrzehntealt. Bisher hat sie es noch nicht zu einer führenden Macht geschafft. Aber ich habe auch noch nie sosehr befürchtet, dass eine Figur wie Marine Le Pen Präsidentin werden könnte, wie jetzt. Aber es gibt vier Spitzenkandidaten, die in den Umfragen bisher gleichauf liegen. Und es gibt noch eine hohe Zahl Unentschlossener. Aber wohin die letztlich tendieren, ist überhaupt nicht vorauszusehen. Natürlich wünschte ich mir, dass Frankreich von einem faschistischen Regime verschont bleibt, weil ich immer gesagt habe, wenn Le Pen an die Macht kommt, muss ich weg. Wobei das großspurig tönt, weil ich in meinem Alter nicht mehr so mobil bin, um irgendwo anders hingehen zu können.

Frankreich hat ökonomisch wie gesellschaftlich mehr Probleme als andere EU-Länder: Wie ist es möglich, dass ein so potenter Staat solche Probleme hat?

Paul Nizon: Frankreich ist ökonomisch, militärisch etc. eine Weltmacht und keine Randnation. Natürlich ist die Arbeitslosigkeit unvergleichlich hoch, vor allem die Jugendarbeitslosigkeit. Aber: Wenn man Frankreich etwa mit Deutschland vergleicht, was in allen Bereichen immer wieder passiert, und wenn man sich die Armutsgefährdung ansieht, dann muss man sagen, dass Deutschland diesbezüglich schlechter aussteigt als Frankreich. In Deutschland gibt es weit mehr Armutsgefährdete als in Frankreich. Mir hat kürzlich ein deutscher Freund erzählt, dass kaum ein Deutscher mit nur einem Einkommen auskommt. Dass die Familien mehrere Einkünfte haben müssen, um irgendwie über die Runden zu kommen.

Was ist Ihnen bei diesem Präsidentschaftswahlkampf besonders aufgefallen?

Paul Nizon: Was bei diesem Wahlkampf besonders zutage getreten ist, mehr als bei früheren, ist die schreckliche Korruption innerhalb der Politik. Es ist ein schmutziger Wahlkampf geworden. Ich glaube es war Hollande, der gesagt hat, dieser Wahlkampf war schmutzig wie kaum je einer. Das hat mich sehr erschreckt. Die Hände der Politiker in der Scheiße stecken zu sehen -  das war wirklich deprimierend. 

Wohnen Sie noch immer in der Nähe des Louvre?

Paul Nizon: Leider nicht mehr, denn ich hatte dort zwar eine wunderschöne Wohnung, aber im fünften Stock ohne Lift. Mit dem Alter, als ich befürchtete, dort eingesperrt zu bleiben, weil ich die Stockwerke nicht mehr schaffe, musste ich mir etwas anderes suchen. Jetzt bin ich in einer ebenerdigen Wohnung in Montparnasse. Auch gut. Ich wohne da, wo die alten berühmten Cafes sind wie das "La Rotonde".