Frau Glück, Sie sind seit 12 Jahren Leiterin der Gedenkstätte Mauthausen. Wie kamen Sie mit 27 auf die Idee, sich um die Leitung dieses Schreckensorts zu bewerben?

BARBARA GLÜCK: Ich wollte immer wissen, warum was passiert ist, zu Hause und in der Schule schon. Also habe ich Lehramt Geschichte studiert, weil ich Geschichte einfach erzählen, erklären und vermitteln wollte. Es ist meine Leidenschaft geworden. Mauthausen als Gedenkstätte ist ein unglaublich bewegender Ort, an dem man auch viel bewegen kann. Er hat mir die Augen geöffnet. Ich habe gesehen, an diesem Ort muss man erklären, warum das passiert ist.

Haben Sie das Lager schon vor Ihrer Bewerbung gekannt?
GLÜCK: Natürlich habe ich es gekannt. Für mich war ganz klar, Mauthausen ist 1938 nicht vom Himmel gefallen, sondern es gibt eine Vorgeschichte.

Welche?
GLÜCK: Die Bereitschaft, Menschen zu verfolgen, zuzuschauen, wie andere Menschen umgebracht oder ins Lager deportiert werden, woher kommt die? Das ist nicht erst 1938 entstanden. Die Feindbilder gab es schon vorher, dieses Aufhören zu denken, etwas kritisch zu hinterfragen.

Gewöhnt man sich an diese Arbeit, diesen Ort?
GLÜCK: Ich hoffe, man gewöhnt sich nie daran, an die Tragik und die Dimensionen.

Was wollen Sie erreichen?
GLÜCK: Ich möchte erreichen, dass Menschen nachdenken, dass sie mit mehr Fragen nach Hause gehen, als sie zu uns gekommen sind. Dass sie nachdenken, was heute in der Welt passiert und was damals passiert ist, weil man weggeschaut hat.

Wie macht man das?
GLÜCK: Unser Vermittlungsprogramm beruht auf Interaktion. Es ist kein Vortrag, sondern wir binden jeden ein, der mit uns einen Rundgang macht. Wir fragen nach, was seht ihr da? Was könnt ihr erkennen? Was könnte das gewesen sein, was könnte es bedeutet haben?

Ein Beispiel?
GLÜCK: Wir stehen bei der Steinbruchkante, gegenüber ist die Todesstiege und wir sehen auf der anderen Seite Häuser auf einem Hügel. Ich frage: Hat es die Häuser damals vielleicht schon gegeben? Habt ihr einen freien Blick hinüber? Hatten die Leute, die dort gelebt haben, auch einen freien Blick auf den Steinbruch? Was glaubt ihr, haben die gesehen oder nicht gesehen?

Wie reagieren junge Leute?
GLÜCK: Jeder fängt an, nachzudenken. Dann kommen solche Aussagen wie: „Ich hätte mich damals nie getraut, irgendetwas dagegen zu machen.“ Oder: „Wieso haben die denn nichts gemacht?“ Dann sage ich: „Das kann ich euch nicht beantworten. Wir können uns nicht hineinversetzen, was damals war und wie es war. Wir wissen nicht, was die gesehen haben oder nicht und was man ihnen gesagt hat. Dass dort Schwerverbrecher sind, die das verdient haben? Dass sie nicht zur Gesellschaft dazugehören? Die entscheidende Frage ist aber: Was seht ihr heute, was wollt ihr heute sehen oder nicht sehen?“

Was sagen sie dann?
GLÜCK: Oft kommt dann plötzlich von der Gruppe selber: Wie kann das heute sein, dass in unserer zivilisierten Gesellschaft Menschen vertrieben, gefoltert, misshandelt werden, auf der Flucht sind, auch ermordet werden? Da beginnt dann erst der Nachdenkprozess.

Ihnen geht es um die Jetztzeit?
GLÜCK: Um beides. Es geht uns darum, dass wir die Menschen berühren, wachrütteln und auch anstupsen können.

Die Zeitzeugen werden immer weniger, wie wirkt sich das auf die Vermittlung aus?
GLÜCK: Zeitzeugen sind durch nichts zu ersetzen. Das Privileg, das wir hatten, werden meine Kinder nicht mehr haben. Jede Generation muss den Zugang zu dieser Zeit und zu diesem Thema selbst suchen. Wir setzen auf Biografien, auf Einzelschicksale. Wir geben den Nummern, die von den Nazis ermordet worden sind, Namen, Identitäten und Persönlichkeiten. Plötzlich bin ich dann mit einer Person konfrontiert. Das löst etwas aus.

Ein Beispiel?
GLÜCK: Wir zeigen in unserer Ausstellung ein Fahrrad. Es hat Stanislav Kudlinski gehört, der in Gusen befreit worden ist. Klosterschwestern in Linz haben ihn gepflegt. Als es ihm besser ging, wollte er nach Polen zurück, wo er seine Verlobte vermutete. Damit er den weiten Weg nicht zu Fuß gehen muss, haben ihm die Klosterschwestern dieses Fahrrad geschenkt.

Und wie kam es zurück?
GLÜCK: Wir haben 2000/2001 ein großes Interviewprojekt gemacht, wo wir auch ihn befragt haben. Da präsentierte er stolz dieses Fahrrad. Es erzählt auch die Geschichte des Heimkommens. In seinem Fall gab es ein Happy End, denn er hat seine Verlobte gefunden und sie haben geheiratet.

Gibt es an einem solchen Ort irgendwelche Verhaltensregeln, zum Beispiel ein Selfieverbot?
GLÜCK: Selfies sind erlaubt. Ich glaube, wir müssen gerade für junge Menschen aufgeschlossen sein und sagen, das ist eure Art und Weise, wie ihr kommuniziert, wir wollen euch das nicht verbieten.
Wenn man sich so lange mit dem Thema beschäftigt, ist die Gefahr der

Routine nicht groß?
GLÜCK: Nein, jeder, der zu uns kommt, ist anders und hat somit auch seinen eigenen Zugang, bringt neue, frische Gedanken mit. Ein Beispiel: In einem Workshop konnte sich jeder seinen Ort und sein Thema aussuchen. Zwei Jugendliche entschieden sich für den Appellplatz. Warum? Sie sagten: Das war damals wie ein Hauptplatz, da hat sich alles abgespielt, Leben und auch Mord. Heute haben wir auch in jeder Ortschaft einen Hauptplatz, da gehe ich freiwillig hin, kann singen, tanzen, demonstrieren. Unser Hauptplatz bekommt für mich eine ganz andere Bedeutung, weil ich weiß, dass das früher anders war. Das sind die Gedanken junger Menschen, die sie mitnehmen.

Weit weg von der üblichen Gedenkkultur.
GLÜCK: Natürlich kann man sagen, das hat mit Gedenken nichts zu tun, denn da bin ich andächtig und lege einen Kranz nieder. Der Duden kennt „gedenken“ aber auch in die Zukunft gerichtet: „ich gedenke, etwas zu tun“. Das ist genau das, was wir an der Gedenkstätte erfragen: „Was gedenkst du zu tun?“

Staatssekretärin Edtstadler hat vorgeschlagen, möglichst allen Schülerinnen und Schülern Mauthausen zu zeigen. Eine gute Idee?
GLÜCK: Das ist eine großartige Idee, weil das zur Aufarbeitung der Geschichte dazugehört. Mauthausen ist ein Teil unserer Identität, unseres nationalen Geschichtsnarrativs, das wir über Jahrzehnte verdrängt haben oder über das wir nicht gesprochen haben.

Erzählen Sie doch ein bewegendes Beispiel eines Jugendlichen, dem ein Licht aufgegangen ist.
GLÜCK: Beim Workshop sind einige ganz ruhig in den „Raum der Namen“ gegangen, weil sie gefunden haben: Da, wo diese Entmenschlichung, diese Entwürdigung, dieses Morden stattgefunden haben, da kehrt heute plötzlich etwas Menschliches und Ruhiges zurück, so, als ob die Ermordeten heute ihre Ruhe finden würden, auch durch uns, dadurch, dass wir hierherkommen. Das sagen uns 17-Jährige.

Sie wirken nach 12 Jahren in keiner Weise amtsmüde.
GLÜCK: Meine Motivation und meine Überzeugung werden eher mehr als weniger.