Herr Kern, Reinhold Mitterlehner hat kürzlich zugegeben, Rachegefühle gegenüber Sebastian Kurz gehegt zu haben. Haben Sie auch welche?

CHRISTIAN KERN: Nein, ich lehne bloß seine Methoden ab. Ich bin ja kein Berufspolitiker, sondern komme aus der Wirtschaft und dort war es nicht üblich, dass man eine Vereinbarung unterschreibt – wie die ÖVP und Kurz im Jänner 2017 – in dem Wissen, diese nicht einhalten zu wollen. Vielleicht war das naiv, auf Verlässlichkeit zu vertrauen, weil es in der Politik üblich ist, dass am Ende das beste Manöver gewinnt und nicht zwingend die Aufrichtigkeit. Das war für mich eine Lernerfahrung.

Wie sehen Sie heute die Ursache für das Ende Ihrer Kanzlerschaft? Sie haben die „Großwetterlage“ genannt, also das Flüchtlingsthema.

Das war das Dilemma: Wir sind auch für die Begrenzung der Zuwanderung und gegen illegale Migration, aber mit der Differenzierung, dass die Menschen, die da sind, ein gutes Recht darauf haben, dass wir sie wie Menschen behandeln. Das heißt, dass sie ein faires Asylverfahren bekommen und wenn das positiv ausgeht, dass sie auch in unsere Gesellschaft integriert werden. Bei dem Thema waren andere im Vorteil, die hier Ängste geschürt haben. Das habe ich immer abgelehnt.
Es hat sehr lange gedauert, bis die SPÖ zu dieser Linie fand.


Deshalb war es auch schwierig, das in der Wahrnehmung zu drehen. Man hätte diese Diskussion viel intensiver und breiter führen müssen.
Wie möchten Sie Ihre Partei in der Opposition umbauen?

Die SPÖ hat eine stolze Geschichte und auf die muss man aufsetzen. Eine Regierungsbeteiligung führt dazu, dass der Pragmatismus dominiert. Grundsatzfragen stehen dann kaum auf der Agenda. In der Opposition haben wir die Chance, vom Pragmatischen wegzukommen und das Konzept zu schärfen, wie wir die Gesellschaft verändern wollen.

Wie?

Dafür ist der Parteiprogrammprozess da. Wir müssen raus aus unserem Saft und wollen das, was Kreisky mit den „tausend Experten“ gemacht hat, einen breiten Parteiprogrammprozess, in ähnlicher Form wiederholen.

Ausgehend vom Plan A?

Der ist sicher eine Grundlage, denn wir haben ihn vor einem Jahr vorgestellt und so stark hat sich die Welt nicht geändert.


Was noch?

Das Zweite ist, dass wir mehr Menschen für uns begeistern müssen. Seitdem ich der Vorsitzende bin, haben wir 5500 Mitglieder dazubekommen. Beim Plan A waren 10.000 Freiwillige dabei, die keine SPÖ-Mitglieder waren. Denen muss man eine Plattform bieten, wo sie sich politisch artikulieren und einbringen können.

Was heißt das?

Wir werden politische Diskussionen austragen, Partizipationsmöglichkeiten schaffen, digitale, physische. Wir wollen den Leuten zeigen, dass ihre Meinung zählt. Mir geht es um ein Zeichen, dass wir die Entscheidungsfindung auf eine breitere demokratische Basis stellen wollen.


Und personell?

Ich will, dass man sieht, dass die SPÖ weit mehr ist als nur Wien. Die Nominierung des Steirers Max Lercher als Bundesgeschäftsführer ist ein Beispiel neben anderen. Lercher hat das Kommunalstrategie genannt. Wir dürfen nicht eine Partei sein, die es nur in den Städten gibt. Wir müssen in jedem einzelnen Ort in Österreich vertreten sein. Nicht nur dort, wo die Post abgeht, sondern auch dort, wo das Postamt abgeht – zugespitzt formuliert. Da ist noch viel zu tun.

Und inhaltlich?

Wir müssen unsere Grundsätze bewahren und dürfen nicht Dogmen pflegen. Unsere Gesellschaft ändert sich. Wir werden uns fragen, wie wird die Digitalisierung die Zukunft der Arbeit beeinflussen? Wie werden wir in einer alternden Gesellschaft Gesundheit und Pflege finanzieren? Was ist überhaupt Arbeit, die wir bezahlen, wenn Roboter Menschen verdrängen und unser Bedarf nach sozialen Diensten steigt? Und wie lange können wir angesichts des Klimawandels noch auf ungebremstes Wirtschaftswachstum setzen? Übrigens alles Fragen, die im schwarz-blauen Programm erst gar nicht gestellt werden.

Was wird aus der SPÖ in Wien?

Wien ist eine unserer wichtigsten Bastionen, ein Gegenmodell zu Schwarz-Blau. Es ist noch zu früh, zu bewerten, was diese Regierung macht, aber es zeichnet sich schon ab, dass der Reformwille der ÖVP erstaunlich schnell auf ein Minimum reduziert wurde. Und bei der FPÖ sieht man, dass viele Dinge, die sie versprochen hat, wieder über Bord geworfen wurden: das kategorische Nein zum 12-Stunden-Tag, zu Ceta, die direkte Demokratie, die auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird.

Andreas Schieder oder Michael Ludwig, wer soll Häupl folgen?

Beide Herren kenne und schätze ich lange, beide haben ihre Stärken. Ich sehe das nicht als Richtungsentscheidung. In den Parteigremien habe ich nicht einmal einen fundamentalen Dissens erlebt. Jedenfalls werde ich mich um einen ruhigen Prozess bemühen.

So ruhig, dass die Medien draußen bleiben müssen?

Meine Rede am Parteitag wird öffentlich sein. Ich finde es richtig, auch bei den anderen Reden, alle Interessierten zuzulassen. Gerade als Kontrast zu einer Regierung, die Journalisten und Fotografen zu maßregeln versucht, halte ich das für ein wichtiges Zeichen.

Warum kandidieren nicht Sie?

Als ich in die Politik gegangen bin – was ja mit gewissen Einschränkungen und einem Preis für die Familie verbunden ist –, habe ich mit meiner Frau eine Vereinbarung getroffen, die sich aber nur auf die Bundespolitik bezogen hat.

Wien, eine Vertragsverletzung?

Erstens, und zweitens habe ich die Verantwortung hier übernommen und bin auch den Bundesländer-Organisationen sehr verpflichtet, die damals alle wollten, dass ich das mache. Da macht man sich nicht davon.

Wie legen Sie die Rolle als Oppositionschef an? Manchmal überspitzen Sie fast schon wie einst Herbert Kickl.

Um Himmels willen! Ich pflege einen ganz anderen politischen Stil. Ich verwende nie Vergleiche, die persönlich verletzend sind und an der Integrität des Gesprächspartners rütteln. Das ist mir wichtig. Die FPÖ hetzt ja sogar in der Regierung weiter.

Die FPÖ hat immer gesagt, sie überspitze, weil sonst niemand zuhört. Stimmt das vielleicht?

Das ist sicherlich nicht ganz falsch, aber man muss nicht unflätig sein und man muss niemanden persönlich beleidigen.

Ihr Verhältnis zu Sebastian Kurz scheint irreparabel.

Keineswegs. Aber wenn man weiß, was hinter der Fassade ist, und dann die Sprüche hört, tut man sich doppelt schwer, die zu glauben. Aber in Wahrheit trennt uns von der FPÖ um einiges mehr als von der ÖVP. Am Ende wird die SPÖ sicher nicht im Winkel stehen können und beleidigt sein. Wir sind eine Kraft, die Politik gestalten will. Wir werden eine Phase der Besinnung haben und auch eine, in der wir wieder Kraft holen werden. Aber am Ende muss man die Gesprächsfähigkeit mit einem langjährigen Partner wie der ÖVP wieder etablieren. Und es wird auch ein Leben nach Sebastian Kurz in der ÖVP geben. Das ist klar: In der Politik ist nichts auf ewig.