Seit 8 Uhr haben fast alle 10.200 Wahllokale für die heutige Nationalratswahl geöffnet. Ein guter Teil der 6,4 Millionen Wahlberechtigten hat schon gewählt: Nicht nur die Frühaufsteher, sondern auch die Briefwähler. Deren Stimmen dürften heuer ein Rekordniveau erreichen - und könnten den Ausschlag geben, wenn die Urnenwahl am Sonntag ein knappes Ergebnis bringt.

Fast 890.000 Wahlkarten wurden beantragt. Damit dürften nach Schätzungen der ARGE Wahlen-Hochrechner rund 780.000 Stimmen per Briefwahl oder - ein kleiner Teil - auch mit Wahlkarte in "fremden" Wahllokalen abgegeben werden. Damit dürften im vorläufigen Endergebnis Sonntagabend noch rund 15 Prozent der gültigen Stimmen fehlen.

Ausgezählt werden diese Stimmen erst in der Woche nach der Wahl: Am Montag die der "klassischen Briefwähler" - und am Donnerstag die Wahlkarten-Stimmen und noch ein (kleinerer) Teil der Briefwahlstimmen, nämlich jene, die am Sonntag in einem Wahllokal in einem "fremden" Wahlkreis abgegeben wurden. Diese Möglichkeit gibt es heuer erstmals. Damit lässt sich schwer abschätzen, wie viele es sein werden - zwischen 50.000 und 100.000 vermuteten Experten.

Ergebnis erst am Donnerstag?

Möglicherweise wird also erst am Donnerstag klar sein, ob die ÖVP, wie die Umfragen erwarten ließen, tatsächlich den ersten Platz erobert hat. Dann hätte ihr Parteichef Sebastian Kurz mit seinen 31 Jahren gute Chancen, der jüngste Bundeskanzler der Zweiten Republik - und unter den aktuellen Regierungschefs weltweit - zu werden. 2013 lag die ÖVP mit 23,99 Prozent noch deutlich hinter der SPÖ. Auch deren Spitzenkandidat, Kanzler Christian Kern, führt seine Partei erstmals in eine Wahl. 2013 war sie noch klar mit 26,82 Prozent Erste - rutschte damit aber, wie die ÖVP auch, noch ein Stück weiter in den historischen Tiefststand.

FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache hofft in seiner vierten Wahl auf einen weiteren Zuwachs zu den 20,51 Prozent aus 2013 - und auf eine Beteiligung an der nächsten Regierung. Denn sein Wahlziel ist, die Fortsetzung der Großen Koalition zu verhindern. Diese hat Kurz bei seiner Kür zum Parteichef im Frühjahr auch aufgekündigt - und somit die Neuwahl ausgelöst. Eigentlich hätte der Nationalrat erst nächstes Jahr gewählt werden müssen.

Die zwei kleineren Parlamentsparteien Grüne und NEOS müssen laut den Umfragen um den Verbleib im Nationalrat zittern. Die Grüne Spitzenkandidatin Ulrike Lunacek hofft aber, nicht allzu viel von den 12,42 Prozent aus 2013 zu verlieren - das war das bisher beste Grün-Ergebnis bei den bisher 21 Nationalratswahlen. Konkurrenz macht den Grünen allerdings ein langjähriger Abgeordneter aus den eigenen Reihen - Peter Pilz, der mit eigener Liste antritt, und gute Chancen hat, damit im Nationalrat zu bleiben. NEOS-Chef Matthias Strolz will sich im Nationalrat behaupten, den seine Partei 2013 recht überraschend auf Anhieb mit 4,96 Prozent erobert hat.

Vier weitere Parteien treten österreichweit an: Die Liste Gilt von Roland Düringer, die Freie Liste Österreich des Ex-FPÖ-Politikers Karl Schnell, die Weißen und die KPÖ, gemeinsam mit den Jungen Grünen. Ihre Chancen auf Mandate sind eher gering - und keine Chancen haben die sechs Parteien, die nur in einzelnen Ländern am Stimmzettel stehen.

Verteilt werden bei der Nationalratswahl 183 Mandate. 2013 bekam die SPÖ 52, die ÖVP 47, die FPÖ 40, die Grünen 24, die NEOS 9 und das Team Stronach 11. Die Partei Frank Stronachs hat sich mittlerweile aufgelöst - und deshalb, aber auch wegen der Gründung der Liste Pilz und sonstigen Zu- und Abwanderungen, hat jetzt zu Ende der Legislaturperiode keine Partei mehr den Mandatsstand, den sie nach der Wahl hatte. SPÖ und ÖVP haben mittlerweile 51 Abgeordnete, die FPÖ 38, die Grünen 21, die NEOS acht - und dazu gibt es 14 "wilde" Mandatare.

Der neue Nationalrat mit den 183 neu gewählten Abgeordneten tritt erstmals am 9. November zusammen - und zwar im Ausweichsquartier in der Hofburg. Denn das Parlamentsgebäude am Ring wird renoviert.

>>>So führen wir durch den Wahlsonntag

Was heute auf dem Spiel steht

Schon lange nicht mehr hat es eine Wahl mit so vielen Unwägbarkeiten gegeben. 6,4 Millionen Österreicher treffen heute eine Vorentscheidung über die Zusammensetzung der nächsten Koalition. Es ist durchaus möglich, dass wir den Wahlsieger kennen, aber nicht den nächsten Kanzler.

1. Was steht am Wahlsonntag auf dem Spiel?
Im engeren Sinn geht es um die Zusammensetzung des neuen Parlaments, das am 9. November zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentritt. Das Kräfteverhältnis, die Machtbalance im Nationalrat entscheidet allerdings über die Zusammensetzung der künftigen Regierung. Es geht darum, welche Koalition bis 2022 Österreich regiert.


2. Wann gibt es die neue Regierung?
Gute Frage, es hängt von den Schwierigkeiten der Koalitionsverhandlungen an. Der Statistik nach sollte es erst 2018 sein, seit 1999 wurde man dreimal im neuen Jahr, nur zweimal vor Weihnacht fertig.


3. Was ist diesmal offen, was ist fix?
Schon lange hat es keine Wahl mit so vielen Unbekannten gegeben. Sebastian Kurz liegt in Umfragen vorn, aber stimmen diese überhaupt? Bei Trump, Brexit, Hofburg waren diese falsch. Wer landet auf Platz zwei? Kann Heinz-Christian Strache Haiders Rekordergebnis von 1999 (27 Prozent) schlagen und auf Platz zwei vorrücken? Gibt es womöglich einen Dreikampf um Platz eins? Schaffen Grüne, Neos, Liste Pilz überhaupt den Einzug ins Parlament? Kehren wir ins Jahr 1986 zurück, als es drei Parteien im Nationalrat gab?


4. Wer ist der nächste Kanzler?
Das wissen wir womöglich nicht einmal nach Auszählung aller Stimmen. Der Bundespräsident wird der stimmenstärksten Partei zunächst einmal den Auftrag für Sondierungsgespräche geben. Es ist durchaus möglich, dass Kurz heute auf Platz eins landet, der Vorsprung aber so knapp ist, dass sich SPÖ und FPÖ nach langen Hin und Her auf Rotblau verständigen. Die Chancen sind groß, dass die FPÖ der nächsten Regierung angehört.


5. Wie viele Leute sind überhaupt wahlberechtigt? Welche Trends sind auszumachen?
Heuer sind erstmals bei einer Bundeswahl mehr als 6,4 Millionen Österreicher wahlberechtigt – genau 6,401.304. Das sind um 0,03 Prozent mehr als bei der Hofburgwahl 2016 und um 0,27 Prozent mehr als bei der letzten Nationalratswahl. Für die Steigerung sind die Auslandsösterreicher, die vermehrt von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen, ausschlaggebend. Das politische Gewicht der Stimmen aus dem Ausland ist immer noch recht bescheiden (0,9 Prozent). Die Bundesländer verzeichnen gegenläufige Trends. In drei Ländern sind die Wahlberechtigten im Vergleich zu 2013 rückläufig,: Kärnten (minus 4379), Steiermark (minus 3778) und in Wien (minus 2704).


6. Wie steht es um das Verhältnis zwischen Mann und Frau?
Der Anteil der Frauen mit 51,67 Prozent ist immer noch größer als jener der Männer, wenngleich die Zahl der Wählerinnen im Vergleich zu 2013 um 0,06 Prozent (2105 Frauen) geschrumpft ist.


7. Ab wann beziehungsweise bis wann kann man wählen?
Die meisten Wahllokale sperren zwischen sieben und acht Uhr auf, nur wenige Städte (Wien, Innsbruck) haben bis 17 Uhr offen. Bitte erkundigen Sie sich in Ihrer Gemeinde.


8. Wann gibt es die erste Hochrechnung?
Christoph Hofinger, der Hochrechner der Nation, meint, wenige Minuten nach 17 Uhr bereits die ersten Zahlen veröffentlichen zu können. Innenminister Wolfgang Sobotka will gegen 19.30 Uhr das vorläufige Endergebnis verkünden.


9. Was ist mit den Wahlkarten? Kennen wir das Ergebnis erst am Montag wie bei Hofburg?
Vielleicht müssen wir sogar bis Donnerstag warten. Bekanntlich wurden 889.193 Wahlkarten ausgestellt. Der allergrößte Teil wird bereits am Montag ausgezählt, rund 100.000 erst Donnerstag.


10. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir heute abends nichts wissen?
Gering. Laut Experten können die Wahlkarten bis zu 0,7 Prozent vom heutigen Ergebnis abweichen, die Wahlkartenwähler sind schon gut erforscht. Insidern zufolge könnte etwa erst am Donnerstag geklärt werden, wer von den Kleinparteien im neuen Parlament vertreten ist. Das hätte allerdings massive Auswirkungen auf die Mandatszahlen. Je mehr Kleinparteien rausfliegen, umso einfacher ist es, eine Koalition (etwa mit 47 Prozent der Stimmen) zu bilden.