Bei der Abstimmung zum Fortpflanzungsgesetz haben einige ÖVP-Abgeordnete die Parteilinie verlassen. Warum gab es keinen Konsens?
REINHOLD MITTERLEHNER: Es ist ein sehr sensibles Thema. Wir haben die Frage intern intensiv ausdiskutiert. Es spricht für Partei und Klub, dass nur vier Personen dagegen waren. Wenn wir die Frage nicht gelöst hätten, hätte es keine Regelung gegeben.


Die Bischofskonferenz hat vom „ethischen Dammbruch“ gesprochen. Verstehen Sie den Einwand?
MITTERLEHNER: Ich sehe das nicht als Dammbruch. Mit den Abtreibungsregelungen kann man seit Jahrzehnten in bestimmten Fällen bis zum neunten Monat abtreiben. Mit der Präimplantationsdiagnostik kann man künftig nicht nur pränatal, sondern, wenn etwa eine Frau schon mehrere Fehlgeburten hatte, im Embryo-Bereich Untersuchungen vornehmen. Gleichzeitig wurde fixiert, dass kein Designer-Baby gezeugt werden kann.


Die Kirche hat jene Abgeordneten, die dagegen gestimmt haben, ausdrücklich gelobt.
MITTERLEHNER: Das finde ich problematisch. Wir kommentieren als Partei auch nicht bestimmte Entwicklungen in der Kirche. Ich habe aber absolutes Verständnis, dass sich die Kirche in die Diskussion eingebracht hat.


Wollen Sie mit der Regelung ein Signal der Öffnung setzen?
MITTERLEHNER: Ich sehe es nicht als Signal in Richtung einer liberalen Etikette. Durch die Entscheidung der Gerichte war die Regierung zum Handeln gezwungen. Man muss sich diesen Fragen stellen, eigentlich schon früher. So wie es andere Länder tun.


Max Weber unterscheidet zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik.
MITTERLEHNER: Ich sehe das als Verantwortungsethik. Wenn wir es nicht geregelt hätten, wären undifferenzierte Fehlentwicklungen die Folge gewesen. Die Vorstellung, dass wir eine neue Diskussion über die Abtreibung an sich haben, ist absurd.


Sie haben bei der Klausur auch die Koexistenz von Familie und gleichgeschlechtlicher Partnerschaft gefordert. Damit ernten Sie in der ÖVP auch Widerspruch.
MITTERLEHNER: Es ist ein genauso komplexes und schwieriges Thema, wo Emotionen mitschwingen. Ich gehe immer mit Logik an ein Thema heran. Es herrscht vielfach die Meinung vor, wenn man gleichgeschlechtliche Paare anerkennt, würde man die Rechte der Familien schmälern, als würde ich Personen, die für die Normalfamilie ausgerichtet werden, abwerben. Wir können ohne Probleme die traditionelle Familie forcieren und mit der Homosexualität respektvoll umgehen.


Viele stoßen sich an der Symbolik.
MITTERLEHNER: Es ist die Befürchtung, dass man jemandem etwas wegnimmt. Auch in diesem Bereich zwingt uns der Verfassungsgerichtshof zum Handeln.


Rupprechter hat vor einem Jahr noch eine Kopfwäsche bekommen.
MITTERLEHNER: Wir leben in einer sich ständig schneller bewegenden Welt. Die Haltung, man sollte alles wie früher belassen, entspricht nicht der Lebensrealität der Menschen. Mir ist es wichtig, dass wir mit schwierigen Themen offen, diskussionsbereit, weiterentwicklungsbereit umgehen – nicht abwehrend und beharrend wie früher.


War die ÖVP früher zu defensiv?
MITTERLEHNER: Da und dort vielleicht ja.


Wollen Sie vollenden, woran Josef Pröll mit der Perspektivengruppe gescheitert ist?
MITTERLEHNER: Die zeitgenössische Orientierung der Partei ist damals nur daran aufgehängt worden. Wir müssen uns auch den anderen Themen widmen: Wie gehen wir mit Sicherheit und Wirtschaft und Arbeitsplätzen um? Mein Wunsch ist es, dass man uns als zukunftsorientierte Partei wahrnimmt. Das Hinhören, Verstehen und Umsetzen entspricht genau dem.


Sie laufen Gefahr, dass Sie gewisse Kreise vor den Kopf stoßen.
MITTERLEHNER: Ich will nicht andere vor den Kopf stoßen, sondern alle in einen Diskussionsprozess einbinden und mitnehmen. Wenn ich dadurch neue Kreise gewinne, sollte sich die Zahl derer, die ich verliere, in einem relativ geringen Bereich halten.


Sie haben bei der Klausur auch von der multikulturellen Gesellschaft gesprochen und gemeint, der Islam gehöre zu Österreich. Ihre Vorgänger hätten das nicht über die Lippen gebracht.
MITTERLEHNER: Ich habe sehr viel an Zustimmung, aber auch harscheste Ablehnung bekommen. Leider ist es so, dass man Islam mit Islamismus gleichsetzt. Von Verallgemeinerungen halte ich nichts. Es ist aber ein Faktum, dass in Österreich nicht nur Katholiken und Protestanten, sondern auch eine halbe Million Moslems leben, wir also schon deshalb eine multikulturelle Gesellschaft vorfinden.


Warum tun sich manche so schwer mit dieser Beschreibung?
MITTERLEHNER: Weil sie in dem Verständnis leben, dass das christlich dominierte Abendland alle anderen zahlenmäßig und von der Einstellung her überwiegt. Das ist ein Bild, das in Europa in wenigen Jahren nicht mehr stimmen wird.


Schwingt nicht die Angst vor der Unterwanderung mit?
MITTERLEHNER: Wenn man Vorurteile bedient, sehe ich die Gefahr der Entsolidarisierung unserer Gesellschaft, dass jene, die anders sind, eine Parallelwelt entwickeln. Gleichzeitig muss das staatliche Gewaltmonopol für alle gelten. Ich kann dann nicht in einem Religionsbereich Regeln entwickeln, die die staatlichen Regeln neutralisieren.


Sie haben auf die Verantwortung der Religionslehrer verwiesen. Sollte es nicht einen verpflichtenden Ethikunterricht geben?
MITTERLEHNER: Der Ethikunterricht könnte eine Alternative sein. Vor allem dort, wo sich jemand gegen einen Religionsunterricht entscheidet. Gleichzeitig sollte man Religionslehrer verpflichten, die wertschätzende Darstellung anderer Religionen zu forcieren, um Feindbildern vorzubeugen.


Gibt es noch andere Bereiche, wo Sie die ÖVP öffnen wollen?
MITTERLEHNER: Ich will keine Bereiche verordnen – nach dem Motto, dort könnte man liberaler sein. Mir geht es um den Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen. Ich will keine Partei, die sich mit Mauern umgibt, sich einmauert, die gute alte Zeit beschwört. Eine solche Partei verliert an Attraktivität. 


Kein Einzementieren auf Uraltpositionen?
MITTERLEHNER: Das ist konservativ im besten Sinn des Wortes, dass ich meine Werte ständig hinterfrage und neu interpretiere.


Voves hat gefordert, dass man „Integrationsunwillige“ juristisch belangen soll. Was sagen Sie dazu?
MITTERLEHNER: Das ist eine SPÖ-interne Diskussion. Er spricht gefühlsmäßig etwas Richtiges an. In Deutschland sagen sogar Islamvertreter, wer Hass predigt und sich von unseren Werten distanziert, soll woanders hingehen. Ich orientiere mich lieber an den bestehenden Gesetzen. Der drohende Finger, bist du nicht willig, dann bist du weg, ist ein bisschen zu dramatisch.


Sie wollen nichts verschärfen?
MITTERLEHNER: Wir haben das Islamgesetz gemacht und müssen schauen, wie das Gesetz wirkt. Eine Anlassgesetzgebung halte ich für problematisch. Ich würde nicht vorschnell Strafen verhängen. Das würde das Klima aufschaukeln.


Sie sehen wirklich keinen Handlungsbedarf?
MITTERLEHNER: Um die Sicherheit zu erhöhen, dürfen wir nicht sämtliche Freiheitsrechte beschneiden. Wir sollten lieber bei der Integration ansetzen. Ich denke nur an unser duales Ausbildungssystem. Bei Lehrlingswettbewerben sind jene, die einen Migrationshintergrund haben, immer unter den Besten.


Vorratsdatenspeicherung?
MITTERLEHNER: Da bin ich vorsichtig. Da plädiere ich für den internationalen Gleichklang. Es darf nicht zur Totalüberwachung aller Bürger führen.


Beim Rauchen plädieren Sie für eine neue Regelung. Sollte es ab 2016 ein totales Rauchverbot in allen Lokalen geben?
MITTERLEHNER: Ich möchte dieses Thema nicht am Rücken der Gastronomie austragen, sondern eine Investitionsabgeltung geben. Wir brauchen eine klare Festlegung und nicht halbe-halbe. Der Slogan der „Wahlfreiheit“ klingt gut, nur Familien mit Kindern oder Mitarbeiter, die in den Lokalen arbeiten, haben keine Wahlmöglichkeit. Wir sind da weiter als vor fünf Jahren. Das Killer-Argument, die Konkurse würden um zwanzig Prozent steigen, ist nicht nachvollziehbar. In Italien, Bayern, Irland hat man Studien gemacht, da gab es mit einer Ausnahme keinen Rückgang.


Ist ein Totalverbot ab 1. Jänner 2016 möglich?
MITTERLEHNER: Das hätten Sie gerne als Schlagzeile. Warten Sie ab.


Eine Lösung bei der Steuerreform wird zunehmend schwierig, weil sich beide Seiten komplett eingebunkert haben. Wie wollen Sie sich zusammenzuraufen?
MITTERLEHNER: Die schwierigste Frage, womit man das abdeckt, werden wir zum Schluss klären. Ich hoffe, dass wir zu einer positiven Lösung kommen.


Einbunkern ist derzeit in Mode, ich denke an das Nein der SPÖ beim Handelsabkommen mit den USA (TTIP) und dem Saudi-Zentrum.
MITTERLEHNER: Bei TTIP wundere ich mich schon. Ich war gerade in Davos und alle waren der Meinung, dass ein gut gemachtes Abkommen mehr Wachstum und Arbeitsplätze bringt. Sogar der deutsche SPD-Chef Gabriel ist dafür eingetreten. In Österreich entwickeln wir den Eindruck, als würden wir ein Paralleluniversum bilden, wo wir mit allen handeln, aber nur nach unseren eigenen Spielregeln.


Eine Politik des Njet erschwert das Regieren?
MITTERLEHNER: Das Ausgraben ist nicht immer einfach, Eingraben und Betonieren sind leichter. Ich hoffe nicht, dass wir beide irgendwann in unvereinbaren Betonpositionen stecken. Wir müssen uns aufeinander zubewegen.


Was wird die Lösung beim Abdullah-Zentrum sein?
MITTERLEHNER: Da möchte ich nicht vorgreifen. Natürlich sind das Vorgehen in Saudi-Arabien und die Haltung vom Zentrum nicht stimmig. Das kann ich einem Österreicher schwer erklären. Man sollte über eine eventuelle Neuaufstellung diskutieren.


Wenn das nicht geht, soll man es schließen?
MITTERLEHNER: Ich würde keine Variante kategorisch ausschließen. Wir haben über den Islam diskutiert. Eigentlich braucht man solche Institutionen, um den Dialog zu intensivieren. Freilich muss man das richtig machen.


Ihr Gegenüber in der Koalition heißt zu Jahresende Faymann?
MITTERLEHNER: Das entscheide nicht ich, sondern er und seine Partei. Ich spekuliere nicht, sondern nehme Fakten als Fakten an.


INTERVIEW: M. JUNGWIRTH