Herr Brague, ist es ungehörig, einen Franzosen an einem Tag wie heute zu fragen, was er an seinem Land eigentlich mag?
RÉMI BRAGUE: Gar nicht. Ich muss nur lachen, dass Sie diese Frage ausgerechnet mir stellen. Ich fühle mich nämlich nicht so sehr als Franzose. Eher schon als Europäer. Frankreich gegenüber hatte ich stets gemischte Gefühle. Das hat damit zu tun, dass ich als Kind einmal im Jahr die Messe hören musste, die für die verstorbenen Offiziere gelesen wurde. Unter ihnen war auch mein Vater, der in Indochina gefallen war. Bei dieser Gelegenheit werde ich wohl das erste Mal das Wort „France“ gehört haben. „Mort pour la France“, gestorben für Frankreich.

Es ist das Land, das Ihnen den Vater genommen hat.
Und das ist wohl auch der Grund dafür, warum mein Verhältnis zu Frankreich nicht so friedlich ist, wie es sein sollte.

Sie sind da nicht allein. Das Bild, das Frankreich nicht erst in diesen Tagen abgibt, ist das einer Nation in Aufruhr. Was ist los?
Das weiß kein Mensch. Viele Franzosen erkennen ihr Land nicht wieder. Es herrscht eine allgemeine Stimmung wenn nicht der Verzweiflung, so doch des Zweifels an der eigenen Identität. Wir wissen nicht, wer in unserem Namen sprechen darf. Unsere Eliten haben sich verirrt. Sie haben von der gelebten Realität des Volkes einen so großen Abstand genommen, dass das Land keinen Spiegel mehr hat, in den es schauen und sich selber verstehen könnte.

Wie sieht die gelebte Wirklichkeit der Franzosen denn aus?
Das ist die große Frage, die niemand so recht zu beantworten wagt. Denn die Ideologie hat den Alltag völlig zugedeckt.

Und wenn Sie es doch wagen?
Ich könnte Ihnen nur ein paar Hinweise geben, wie der Alltag auf dem Land aussieht, dem tiefen Frankreich, la France profonde, wie wir Franzosen sagen. Da fällt mir das Dorf meines Vaters ein, ein kleines Nest in Burgund. Als meine Mutter es in den Dreißigerjahren kennenlernte, gab es eine Reihe von Geschäften dort, einen Bäcker, einen Fleischhauer und sogar ein Hotel und eine Schule. Heute hat das Dorf nicht einmal ein Bistro, und wer Frankreich kennt, weiß, was das bedeutet. Es gibt keinen Ort mehr, an dem sich die Bewohner treffen und austauschen können. Der Staat ist nur mehr in Form des Postamts präsent, aber sogar das ist nicht jeden Tag geöffnet.

Das urbane Milieu trifft das ländliche Frankreich: Männliches Paar vor dem Mont-Saint-Michel in der Normandie
Das urbane Milieu trifft das ländliche Frankreich: Männliches Paar vor dem Mont-Saint-Michel in der Normandie © Wolfgang Zajc

Heißt das, das tiefe Frankreich existiert nicht mehr?
Doch, aber es sinkt im wahrsten Sinn des Wortes immer tiefer. Es gibt auf dem Land keine Arbeit mehr, nur Kühe und Felder mit Sonnenblumen oder Raps, aus dem Öl hergestellt wird. In den Hauptstraßen der Flecken findet man eine steigende Zahl leer stehender, verwahrloster Häuser. In Clamecy dem nächstgrößeren Ort vom Dorf meines Vaters gibt es ein Spital mit Ärzten, die alle aus Nordafrika stammen. Die sind sehr gut und kompetent, werden aber schlechter bezahlt als einheimische Ärzte, weil am Land kein Franzose mehr arbeiten will. Wen wundert es da, dass die Leute sich verlassen fühlen?

Was bedeutet es für ein Land, wenn sein Innerstes verödet?
Das ländliche Frankreich ist in den tiefsten Schichten des französischen Unterbewusstseins verankert. Früher einmal hatte jeder Franzose Großeltern auf dem Land und eine bestimmte Vorstellung vom ruralen Leben. Als François Mitterrand 1981 für die Präsidentschaft kandidierte, warb er mit einem Plakat, das ihn vor einem Dorfkirchturm zeigte. Gut möglich, dass dieses Dorf ein Fantasiegebilde war. Aber die Art und Weise, wie Mitterrand sich als Vertreter einer stillen Kraft vorstellte, zeigt, wie sehr das tiefe Land Teil unserer Identität ist. Diese Wurzel geht verloren.

Was geschieht mit den Menschen, die sie verlieren?
In den Vororten der großen Städte leben nicht nur Einwanderer. Die Banlieues sind voll mit Menschen, die seit Generationen Franzosen sind, sich aber irgendwie unbehaust fühlen. Sie sind erfüllt von der Sehnsucht nach einer Zugehörigkeit, die sie verloren haben.

Was eint die Franzosen noch?
Der Fußball, der Sport. Er scheint mir am ehesten die Gemeinsamkeit zu sein, auf die sich die Leute verständigen können. Ob das reichen wird? „I wouldn't buy that“, sagen die Amerikaner. Das würde ich nicht kaufen. Die Idee eines Patriotismus ist jedenfalls weg.

Was sind die Gründe dafür?
Ein Grund ist, dass sich Einwanderer aus fremden Kulturen nicht mehr automatisch mit ihrer neuen Heimat Frankreich identifizieren, sondern Generationen dafür brauchen. Früher war das anders. Da gab es Beispiele gelungener Integration. Der Philosoph Alain Finkielkraut zählt dazu. Seine Eltern waren Juden aus Polen, haben sich aber geweigert, dem Sohn Polnisch beizubringen. Das war vielleicht dumm. Es ist immer gut, mehrsprachig zu sein. Aber es war Ausdruck eines festen Integrationswillens.

Das Gegenteil davon sind die brennenden Autos in den Vororten. Was ist schiefgelaufen?
Die Vororte waren einst fest in der Hand der Kommunisten. Zwischen ihnen und dem Staat gab es einen Deal: Wir bleiben die Herren der Wirtschaft, ihr kümmert euch um die Banlieues. Heutzutage haben die Imame die Kommunisten ersetzt und man hat die Schule als Werkzeug der Integration fallen gelassen und die Wehrpflicht abgeschafft. Wer einst die französische Uniform trug, erhielt die Staatsbürgerschaft. Das war die eiserne Regel. Viele Elemente dieses Integrationsprozesses sind verloren gegangen,

Wo wird das enden?
Ein multikulturelles Individuum ist ein Wunder, der Heilige unserer Tage. Aber an die multikulturelle Gesellschaft glaube ich nicht, sie ist eine große Gefahr.

Jugendliche Unterstützer des sozialliberalen Élysée- Kandidaten Emmanuel Macron kleben im nächtlichen Paris Plakate
Jugendliche Unterstützer des sozialliberalen Élysée- Kandidaten Emmanuel Macron kleben im nächtlichen Paris Plakate © Wolfgang Zajc

Warum ist sie das?
Die Leute haben keine gemeinsame Sprache. Sie fühlen sich nicht als Teil desselben Ganzen.

Reichen die Ideale der Revolution - Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - nicht als Kitt für die französische Gesellschaft?
So wie diese drei Ideale heute verstanden werden, sind sie leere Begriffe. Die Freiheit des modernen Menschen ist die eines Taxis: Es kann von jedermann genommen werden und fährt dorthin, wo der Passagier es will, nicht der Fahrer. Gleichheit? Die soziale Lage Frankreichs ist das Gegenbild davon. Dann halt Gleichheit vor dem Gesetz? Das Gesetz hat jeden Anspruch auf Erziehung aufgegeben. Es soll Ihnen die Möglichkeit geben, das zu tun, wonach Ihnen der Sinn steht. Das Gesetz wird zu einer Wunscherfüllungsanstalt. Und Brüderlichkeit? Was wird in einer vaterlosen Gesellschaft daraus? Wo es kein Vaterland gibt im Grundsinn des Wortes, da kann es keine Geschwister geben.

Der Philosoph Alain Finkielkraut warnt vor Frankreichs Islamisierung. Hat er recht?
Ich wünschte, er irrt sich. Tatsache ist, dass die Anzahl der Muslime in Frankreich wächst. Die Frage, die sich mir stellt, lautet, ob diese Leute sich so hundertprozentig mit dem Islam identifizieren. Es ist gut möglich, dass sie ihn nur als Schwimmreifen benutzen, um im Säkularismus nicht unterzugehen. Faktum ist: Der Islam dient oft als Identitätsprinzip für Menschen, die sich mit nichts anderem identifizieren. Da stoßen wir dann auf die Grenzen des Säkularismus.

Weil er nichts Weiterführendes anzubieten hat?
Der Säkularismus ist die Übertragung des freien Marktes auf die Ebene der Gedanken: Jeder kann kaufen und verkaufen, was er will. Es gibt aber keine maßgebende Ware. In derselben Weise sagt auch Frankreichs Säkularismus den Leuten: Seid glücklich. Wie sie ein gutes Leben führen können, müssen sie aber selber entscheiden.

Der linke Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon hat erklärt, es wäre besser gewesen, Karl Martell wäre 732 bei der Schlacht von Tours und Poitiers den Arabern unterlegen. Warum tut sich Frankreich mit seinem christlichen Erbe so schwer?
Für mich ist dieser Hass dem Christlichen gegenüber der schönste Beweis für die tiefchristliche Natur der französischen Identität. Denn, wer sich selbst hasst, muss das in sich hassen, was ihn zu dem macht, was er ist. Die Eliten der französischen Gesellschaft identifizieren sich mit der Revolution. Was davor war, soll ausradiert, vergessen werden. Aber wie kann man vor einem Wunderwerk wie der Kathedrale von Chartres stehen und behaupten, sie entstamme finsteren Zeiten? Das ist mir ein Rätsel.

Rémi Brague, geboren 1947 in Paris, studierte Philosophie, klassische Sprachen sowie Hebräisch und Arabisch. Er lehrte Philosophie an der Sorbonne und an der Universität München und beschäftigt sich verstärkt mit der Identität.
Rémi Brague, geboren 1947 in Paris, studierte Philosophie, klassische Sprachen sowie Hebräisch und Arabisch. Er lehrte Philosophie an der Sorbonne und an der Universität München und beschäftigt sich verstärkt mit der Identität. © Wolfgang Zajc