Verstehen Sie, Monsieur, warum ich den Front National wähle? Monsieur, verstehen Sie, dass ich Le Pen wähle!“ Was gerade noch als Frage daherkam, gerät in der Wiederholung zum Schrei aus der Tiefe, zum zornigen Befehl, der keine Gegenrede duldet.

Und was soll man auch schon groß einem Mann erwidern, der soeben erzählt hat, dass er sich das Leben nehmen wollte, weil ihm die Schulden über den Kopf gewachsen sind und er in seiner Not weder ein noch aus wusste? Und dass die Chefin des Front National die einzige Persönlichkeit aus der französischen Politik war, die seinem Hilferuf gefolgt ist und sich von seinem Elend ein Bild gemacht hat.

Im Stall von Yannick Bodin standen vor einem Jahr noch 80 Kühe
Im Stall von Yannick Bodin standen vor einem Jahr noch 80 Kühe © Wolfgang Zajc

Ein Jahr ist das jetzt her, und Yannick Bodin hat es Le Pen nicht vergessen. Er ist ein stämmiger, extrovertierter Mann Anfang vierzig mit Brille und schütterem Haar, ein hemdsärmeliger Macher, der sich nicht unterkriegen lassen will vom Leben und seinen Widrigkeiten. Deshalb wird er bei den Präsidentschaftswahlen für die Rechtspopulistin stimmen. Und wenn im Juni dann ein neues Parlament gewählt wird in Frankreich, wird er sogar für den Front National kandidieren. „Macht das einen Rechtsextremen aus mir?“, fragt Bodin. „Die Wahrheit ist: Ich habe nichts mehr zu verlieren. Deshalb wähle ich Marine Le Pen!“

Ein Opfer der Milchkrise

Bodin ist Milchbauer in Juilley, einem Dorf in der Normandie, besser gesagt, er war es. Denn er musste alle Tiere verkaufen und im riesigen Stall herrscht jetzt gähnende Leere. 80 Stück Vieh waren es. Das ist viel, wenn man an die zwei Kühe denkt, mit denen sein Vater Mitte der 60er-Jahre nach der Rückkehr aus dem Algerienkrieg begann.
Bodin ist ein Opfer der Krise, die die französische Milchwirtschaft seit Jahren in Schüben heimsucht und das Land nach dem Auslaufen der EU-Milchquoten vor zwei Jahren mit besonders großer Wucht überrollt hat. Der niedrige Milchpreis war am Ende auch für Yannick Bodins Hof das Todesurteil. Im vergangenen August hat der Landwirt zugesperrt.

Dabei wirkt alles so friedlich hier in Juilley tief im Westen von Frankreich. Kühe grasen auf grünen Weiden unter Apfelbäumen, die Bauernhöfe sind aus gemauertem Stein und der Mont-Saint-Michel, der weltberühmte Klosterberg am Ärmelkanal, liegt ganz in der Nähe.

Der Mont-Saint-Michel am Ärmelkanal. Der Hof der Bodins ist ganz in der Nähe
Der Mont-Saint-Michel am Ärmelkanal. Der Hof der Bodins ist ganz in der Nähe © Wolfgang Zajc

Ein Idyll ist die Landschaft aber nur für den, der ihr nicht seine Existenz abtrotzen muss. Niemand weiß das besser als Bodin. „Wir haben in der Normandie viele Höfe mit 60 bis 70 Kühen“, erzählt der Bauer. „Das sind Familienbetriebe, die, um auf dem Markt mitzuhalten und die hohen Investitionskosten wettzumachen, immer industrieller werden müssen. Gleichzeitig stagniert der Milchpreis seit 20 Jahren.“ Rechne man die Kosten für das Futter und den Tierarzt dazu, gerate die Milcherzeugung vollends zum Verlustgeschäft. „Es hat lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass ich keine Milch produzieren darf“, sagt Bodin. Viele würden weitermachen in der Hoffnung, dass die Preise steigen, und sich von den Banken Geld ausleihen. „Aber das ist verrückt. Das wollte ich nicht. Deshalb bin ich ausgestiegen“, sagt Yannick.

Er sagt es so beiläufig dahin. Aber die Wunde ist noch frisch. Bodin berichtet von der Zuversicht, mit der er 1997 den elterlichen Hof übernahm und ermuntert durch Politik und Bauernvertreter zu expandieren begann. „In der Landwirtschaftsschule hat man uns nicht beigebracht, wie wir von unserem Beruf leben können, sondern wie man produziert. Man hat uns gesagt: ,Investiert!' Und ich habe mich vom Sirenengesang einlullen lassen.“ In zehn Jahren dehnte Bodin seinen Betrieb von 20 auf 120 Hektar aus und zog neben der Milchproduktion eine Kälberzucht auf. Doch dann kündigte man ihm vorzeitig den Fleisch-Liefervertrag und Yannick saß plötzlich auf einem riesigen Schuldenberg.

Bodin ist kein Einzelfall. Nach Angaben des Milcherzeugerverbandes FNPL könnten heuer 10.000 französische Milchbauern zusperren. Das wäre jeder sechste Betrieb im Land.

Die Selbstmorde von Milchbauern häufen sich

Verheerende Zahlen sind das, Yannick kann sie aus dem Schlaf abrufen. Bis vor ein paar Wochen war er noch regionaler Vorsitzender der Coordination Rurale. Das ist die zweitgrößte Bauerngewerkschaft in Frankreich und Yannick war im ganzen Land bekannt wie ein bunter Hund. Vor zwei Jahren stand er an der Spitze der Landwirte, die aus Protest gegen den Verfall der Lebensmittelpreise mit 200 Traktoren die Zufahrt zum Mont-Saint-Michel versperrten. Und aus Wut über die Tatenlosigkeit, mit der die Politik den sich häufenden Suiziden von Bauern begegnet, hat er im Vorjahr einem konservativen Abgeordneten in Avranches einen Kuhkadaver an die Tür gehängt.
Die Selbstmorde sind der Skandal, der an Yannicks Seele nagt. Zwischen 170 und 600 Bauern haben sich im Jahr 2016 unterschiedlichen Quellen zu folge in Frankreich das Leben genommen, weil sie sich - eingeklemmt zwischen Schulden und dem Zwang, immer mehr zu produzieren - nicht mehr zu helfen wussten. Der harmlosesten Lesart nach wäre das fast jeden zweiten Tag ein Selbstmord. „Das, Monsieur, ist die Wirklichkeit, in der wir Bauern heute leben“, schreit Bodin.

Bodin ist aufgewühlt. Erst vor fünf Tagen hat sich in Le Teilleul, einer kleinen Gemeinde ganz in der Nähe, ein Bekannter von ihm umgebracht, ein Viehzüchter. Eineinhalb Wochen davor sei im nur eine halbe Autostunde entfernten Dompierre-du-Chemin in der Bretagne ein Milchbauer tot aufgefunden worden, und noch einmal ein paar Tage davor ein Landwirt in Saint Fraimbault im Département Orne.

In einem wütenden Stakkato reiht Bodin die Namen von Personen und Orten aneinander. Es ist das Sterberegister eines ganzen Standes, seines eigenen - der Bauern in der Normandie.

Wie sehr es ihn hernimmt, dass auch er selber an Suizid dachte, merkt man daran, dass er die Stimme senkt, als er davon erzählt. Dabei gibt es gar niemanden in der Nähe, der mithören könnte. Die Kinder, zwei Buben sind es, Maxence und Vincent, spielen im Haus und Sonia, seine Frau, ist damit beschäftigt, Kartons zu packen. Denn die Bodins werden umziehen. Sie lassen ihr altes Leben hinter sich. Unweit vom Mont-Saint-Michel haben sie ein Haus gemietet, das sie zu einem kleinen bäuerlichen Gastronomiebetrieb mit ein paar Gästezimmern umbauen wollen. Im vergangenen Sommer hat Yannick sich einen mobilen Grillstand zugelegt und am Fuß des Mont-Saint-Michel Touristen bewirtet. „In drei Monaten habe ich damit mehr Geld verdient, als mit den Milchkühen in einem Jahr“, erzählt der Bauer.

Einen Großteil der Hofgebäude will Yannick Bodin künftig vermieten
Einen Großteil der Hofgebäude will Yannick Bodin künftig vermieten © Wolfgang Zajc

Habe er davor jeden Tag 150 Euro verloren, würden sich Ausgaben und Einnahmen nun ausgleichen, sagt Bodin. „Wir werden den Großteil der Hofgebäude vermieten und ein paar Rinder halten, die das Fleisch für den Grill liefern sollen. Und auf den frei gewordenen Flächen werde ich Getreide anbauen. Das sollte es mir erlauben, die laufenden Kredite in der Gesamthöhe von rund 440.000 Euro abzustottern.“

Das Leben geht weiter, auch für Yannick. „Mein Glück ist, dass ich mir meinen Kummer von der Seele rede“, sagt er und meint damit wohl auch seinen Zorn auf Europa, das er für sein und das Elend der französischen Bauern hauptverantwortlich macht. „Die EU beschützt uns nicht, sondern spielt uns gegeneinander aus, indem sie den Wettbewerb zwischen den Bauern schürt. Aber wie sollen wir in der Normandie mit den großen deutschen und dänischen Milcherzeugern konkurrieren können, die unter ganz anderen Bedingungen produzieren?“

Der ultraliberale Glaube, dass Nahrungsmittel billiger werden, wenn unter den Bauern ein erbitterter Überlebenskampf herrsche, habe zur Folge, dass die regionale Landwirtschaft wie jene der Normandie mit ihrem ganzen Reichtum, ihren Eigenheiten und Realitäten zerstört werde, klagt Bodin. „Am Ende gewinnen die Lobbys, die Agrarindustrie, die Finanzfonds und die Banken.“ Sicher, die EU gewähre Ausgleichszahlungen. Aber diese orientierten sich am Weltmarkt und nicht am Ziel sozialer Gleichheit zwischen Stadt und Land in Frankreich. Die Folge sei, dass die Bauern gesellschaftlich an den Rand gedrängt würden. „Wir arbeiten 70 bis 80 Stunden in der Woche, haben fast kein Sozialleben und kaum Urlaub. Ich kann meine Buben nicht einmal zum Fußballtraining schicken, weil mir das Geld dafür fehlt.“

Der Politologe Cyril Crespin von der Universität Caen
Der Politologe Cyril Crespin von der Universität Caen © Wolfgang Zajc

Für Cyril Crespin ist das Soziale der Punkt, an dem Le Pen ansetzt. Crespin ist Politologe an der Universität von Caen und hat das Vordringen des Front National in die ländlichen Milieus erforscht. Lange Zeit sei der FN in der Normandie nicht über die Industriegürtel der großen Städte wie Le Havre und Rouen hinausgekommen. Doch seit einiger Zeit gewinne die Partei in traditionell christdemokratischen Landstrichen, die ihr ablehnend gegenüberstanden, an Boden und erreiche bei Wahlen mittlerweile zwischen 20 und 30 Prozent und in einzelnen Gemeinden sogar 40. Das sei vorher absolut unvorstellbar gewesen, sagt Crespin.
Wo sieht er die Gründe für diesen Wandel? „Frankreich war über Jahrhunderte von einer zutiefst ruralen Kultur geprägt. Erst ab 1931 lebten mehr Franzosen in den Städten als auf dem Land. Die Bauern waren früher wichtige Leute im Dorf. Heute sind sie in der Minderheit und die etablierten Parteien geben ihnen das Gefühl, dass sie ihnen egal sind. Das sind Verlorene. Nicht nur, weil sich ihr kulturelles Koordinatensystem in Luft aufgelöst hat. Niemand hat ihnen gesagt, dass sie mit der EU-Erweiterung Konkurrenz aus dem Osten bekommen werden. Die Konservativen verteidigen die EU sogar. Viele Bauern fühlen sich deshalb von ihnen verraten.“

Marine Le Pen ziele stark auf dieses Gefühl der Verlassenheit ab, so Crespin. „Sie fährt in Dörfer, beschwört den Mythos von La France profonde, dem tiefen, ländlichen, wahren Frankreich, und spricht von seinen Vergessenen. Und sie bezichtigt Europa, der Ursprung aller Probleme zu sein. Das gefällt vielen.“

Natürlich habe er Angst, dass Le Pen nicht Wort halte, sagt Yannick Bodin. Er steht auf seinem verödeten Hof und hat die Arme über der Brust verschränkt. „Aber wer soll die Bauern dann verteidigen? Es gibt keine Solidarität mehr unter uns. Aus Existenzangst schaut jeder nur auf sich. Lassen Sie mir doch die Hoffnung, dass Le Pen es schaffen wird!“