Marine Le Pen war da, aber Jean-Pierre Coïc hat es gar nicht mitbekommen. Es war Freitag. Das ist der Markttag in Concarneau. Einmal in der Woche verwandelt sich der große Parkplatz gegenüber der Altstadt dann in ein menschenwogendes Gemälde von Gerüchen, Farben und Geräuschen. Bauern bieten ihre Produkte feil. Zwiebeln, Endivien, Lauch und die ersten Erdbeeren, aber auch Wurst und Käse und für eine Stadt am Meer findet man bemerkenswert wenig Fisch.

Es ist nicht das maritime Frankreich, das an diesem sonnigen Apriltag in dem südbretonischen Fischerhafen seinen Reichtum ausstellt, sondern das ländliche. „La France profonde“, sagen die Franzosen dazu - das tiefe, wahre Frankreich, nach dem sich alle sehnen.

Le Pen als "rettender Anker"

Le Pen inszeniert sich gern als seine Verteidigerin. Unter den Hochrufen ihrer Anhänger hat sich die Chefin des Front National unter die Marktleute gemischt und dann für die Kameras vor dem großen eisernen Anker am Eingang zur Altstadt, der Ville Close, posiert. Die Botschaft war unschwer zu entziffern: Seht her, ich bin der rettende Anker, den das Land braucht.

Jean-Pierre Coïc saß da beim Arzt im Warteraum und ärgerte sich. Er ist Fischer, aber man hat ihm von Amts wegen beschieden, dass er zu schlecht sehe, um sein Boot zu steuern. Das war vor einer Woche und so lange durfte er nicht aufs Meer hinaus. „Wissen Sie, was das für einen Fischer wie mich bedeutet? Ich kann nicht arbeiten und habe kein Einkommen mehr.“

Die Tristesse der Provinz: Straßenszene in Concarneau.
Die Tristesse der Provinz: Straßenszene in Concarneau. © Wolfgang Zajc

Nach endloser Warterei hat der Arzt ihm dann doch ausreichende Sehkraft attestiert, aber für die Freigabe seines Boots musste Jean-Pierre zur Capitainerie und dort wieder stundenlang herumsitzen. Er hätte außerdem gern zwei Leute zu seinen Fanggründen bei den nahe gelegenen Glénan-Inseln mitgenommen. Dafür wird aber eine eigene Erlaubnis benötigt, die er aber nicht bekommen hat, weil sein Boot, die „Étoile“, für den Transport fremder Passagiere angeblich zu klein ist.

Jetzt sitzt Jean-Pierre im Quai des Îles, einer Bar im Fischerhafen von Concarneau, und spült seinen Frust mit einem Bier hinunter. Er ist ein ruhiger, fast schüchtern wirkender Mittfünfziger, ein Aussteigertyp mit vom Salz gesträhntem rotem Haar und einem von Wind und Regen gegerbten Gesicht, keiner, der sich in den Vordergrund drängt. Aber einer, der mit seinem Zorn nicht hinterm Berg hält, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt. Und das tut Jean-Pierre jetzt. „Das Ausfahrverbot war eine Schikane“, schimpft er. „Auf diese Weise will man Unbequeme wie mich zum Schweigen bringen.“

Der Fischer sieht sich als Opfer der lokalen Administration, die „kleinen Leuten“ wie ihm mit immer neuen Vorschriften, Auflagen und Verboten das Leben noch schwerer macht, als es schon ist, während die Großen, die multinationalen Konzerne und Banken, „das Kapital!“, immer größere Profite lukrieren.

"Korrupte Kommunalpolitik"

Bei den Kommunalwahlen vor drei Jahren hat Coïc für eine ultralinke Liste kandidiert. Und er hat gemeinsam mit anderen Küstenfischern aus Concarneau Hunderte Unterschriften gegen die geplante Verkleinerung des Fischerhafens gesammelt. „Generationen von Fischern haben den Hafen mit ihrem Geld finanziert. Und jetzt sagt uns die Politik, wir sollen verschwinden, und hat Teile des Areals beschlagnahmt, um Restaurants und Bars zu errichten. Ist das Demokratie?“

Korrupt sei die Kommunalpolitik, wettert Jean-Pierre, und mit der nationalen Politik verhalte es sich nicht anders. „Es gibt kein übergeordnetes Streben nach Gemeinwohl mehr. Gauner machen unsere Politik. Das sind Lügner und Betrüger!“
Der Fischer hat sich in Rage geredet. Die Stimme bebt vor Wut, seine Augen funkeln. Dabei richtet sich sein Zorn weniger gegen die Rechte. „Mit deren Politik war ich nie einverstanden. Aber die Rechte hat mich nicht im Stich gelassen.“ Das seien die Sozialisten gewesen, Leute wie Präsident Hollande oder sein früherer Wirtschaftsminister Macron, der jetzt als Unabhängiger kandidiere. „Aber das sind keine Linken. Die verstecken sich hinter dem Sozialismus, um ihre ultraliberale Politik durchzusetzen.“

Die Werft in Concarneau.
Die Werft in Concarneau. © Wolfgang Zajc

Es sind Worte, die gleichsam den Urkonflikt zwischen Pragmatikern und Radikalen widerspiegeln, der die französische Linke seit jeher zerfasert: Was tun? Im System regieren, um das Leben der Menschen zu ändern, wie das schon François Mitterrand, der erste sozialistische Präsident der Fünften Republik, machte? Oder über einen Bruch mit dem System eine neue, bessere Welt erschaffen?

Die Pensionen würden sinken und das Pensionsalter klettere nach oben, zürnt Coïc. „Wissen die, was es heißt, bei jedem Wind und Wetter auf das Meer hinauszufahren?“

Aus einer Arbeiterfamilie aus Le Mans im Landesinneren stammend, hat Jean-Pierre sich sein Leben lang als Linker gefühlt. „Die Linke, das war Freiheit, Gleichheit und soziale Sicherheit.“ 1981 stimmte er bei der Präsidentschaftswahl begeistert für Mitterand. „Ich habe wirklich an ihn geglaubt. Aber schon Mitterand war kein Sozialist. Das haben wir kleinen Küstenfischer im Finistère rasch zu spüren bekommen.“

Das Finistère ist der äußerste

westliche Zipfel Frankreichs. Der Name kommt aus dem Lateinischen. Finis terrae - das Ende der Welt, sagten die Römer dazu. Es ist ein rauer Landstrich mit einsilbigen Menschen, die seit Urgedenken in enger Symbiose mit der See leben. Das Meer gibt und das Meer nimmt. So war es immer. Auch Jean-Pierre lebt in diesem Bewusstsein. Wenn er vom Meer spricht, tut er das mit Ehrfurcht. Er ist Fischer mit Leib und Seele, ein „pêcheur artisanal“, wie er sich selbst stolz nennt, einer also, für den das Fischen noch ein Handwerk ist, und kein Industriezweig.

Auf Krabbenfang spezialisiert, fährt er bei gutem Wetter jeden Tag um sechs Uhr in der Früh mit seinem Boot zum Glénan-Archipel, hievt die schweren Fangkörbe an Bord, leert sie und lässt sie mit Ködern versehen zurück ins Wasser. Das ist eine schwere, oft gefährliche Arbeit, mit der er, wenn es gut läuft, auf ein Monatseinkommen von 1500 Euro netto kommt. „Sie werden jetzt sagen, das ist nicht viel, aber mir langt es. Ich habe mein Leben so gewählt. Ich bin Fischer, weil ich das Meer mag und frei sein wollte. Aber das ist vorbei“, sagt Coïc. Die EU habe die Existenz der kleinen Fischer zerstört.

„Erst hat Brüssel uns gezwungen, die Flotten zu reduzieren. Dann hat es den Fischern vorgeschrieben, wie viel sie wo fangen dürfen. Diese Quoten sollen bedrohte Arten vor dem Aussterben bewahren. Aber sie sind ein Witz. Denn sie führen dazu, dass die Fischer Netzfänge, für die sie keine Quote haben, tot ins Meer zurückwerfen, weil sie sonst eine Strafe riskieren. Ist das nicht schwachsinnig?“

Ziel der EU sei es, den Fisch zu einem Rohstoff wie Erdöl und Kohle zu machen, zum Spekulationsobjekt für das Großkapital. Deswegen ruiniere sie gezielt die kleine Küstenfischerei und fördere den industriellen Fischfang, glaubt Jean-Pierre.
Das sind zornige Vorhaltungen, die außer Acht lassen, dass die Gründe für den Niedergang der bretonischen Fischerei vielfältig sind. Es ändert aber kein Jota am niederschmetternden Befund. War Concarneau im Jahr 1962 mit jährlich 50.000 Tonnen angelandetem Fisch noch der drittgrößte Fischereihafen von Frankreich, rangiert es mit 5600 Tonnen heute weit abgeschlagen auf Platz elf.

Kein Widerstand gegen den "Irrsinn"

Als er Anfang der Achtzigerjahre mit der Fischerei begann, habe es in Concarneau noch gut 200 Fischerboote gegeben, erzählt Coïc. Heute seien es ein paar Dutzend und ihre Besitzer stünden meist kurz vor der Pension. Die Jungen würden den Beruf aber nicht mehr erlernen wollen, weil er unattraktiv geworden sei. „Wir sind in einer verrückten Spirale. Wer den Fisch billiger hergibt, verkauft mehr. Aber wenn ein Fisch nichts mehr kosten darf, zahlt am Ende derjenige drauf, der ihn aus dem Meer zieht.“

Was er der Politik, allen voran den Sozialisten, ankreide, sei, dass sie keinen Widerstand gegen diesen Irrsinn leiste und sich mit den kleinen Fischern nicht solidarisch zeige, ereifert sich Coïc. „Wenn man diesen Leuten mit Solidarität kommt, wird man als Linksextremist denunziert, als Gewalttätiger. Das bin ich nicht. Ich bin links und habe meine Ideale nie verraten.“ Dazu muss man wissen, dass Solidarität für Jean-Pierre kein leeres Gerede ist. 1994 ging er für zwei Jahre in humanitärer Mission nach Haiti. „Nach meiner Rückkehr hatte ich die Idee, Boote, die im Zuge des Flottenabbaus auf Geheiß der EU hätten zerstört werden sollen, zu restaurieren und armen Fischern in Haiti zu schicken. Wir haben dafür den Verein Solidarité Pêche gegründet. Ich wollte helfen, habe das Projekt aber auch als Widerstand gegen die Politik der EU gesehen.“ Nach 18 Jahren und fünf Booten, die Coïc über den Atlantik schickte, hat der Verein im Februar seine Tätigkeit eingestellt, mangels Geld und Unterstützung durch die Politik, wie der Fischer sagt.

Leben vom und mit dem Meer: junge Hafenarbeiter in Finistère.
Leben vom und mit dem Meer: junge Hafenarbeiter in Finistère. © Wolfgang Zajc


Wütend wird er zum ersten Mal bei einer Élysée-Wahl nicht für einen Kandidaten der Linken stimmen. Er habe überlegt, Jean-Luc Mélenchon zu wählen, den Volkstribun, von dem alle reden. „Aber Mélenchon will nicht raus aus der EU. Er will die Verträge neu verhandeln. Das ist mir zu wenig. Ich bin nicht gegen Europa, aber gegen die EU mit ihrem Zwang, alles zu liberalisieren und alle Lebensgewohnheiten und Traditionen zu zerstören, gegen die bin ich. Das ist eine unipolare Welt mit Profit für immer die Gleichen.“

Der Zorn auf die EU verflüssigt die alten ideologischen Gegensätze zwischen links und rechts. Europas Befürworter gegen seine Feinde, das ist die neue Kluft, die Frankreich durchzieht. Le Pen zu wählen, käme für Coïc trotzdem nie infrage. „Ich bin kein Rassist“, sagt er. Jean-Pierre wird daher für François Asselineau stimmen, einen Obskuranten und ehemaligen Gaullisten, der die EU für eine Schöpfung des CIA hält und sich als Kandidat des „Frexit“ affichieren lässt. Es ist der Endpunkt einer langen politischen Entfremdung, die Ohnmachtsgeste eines verlorenen Fischers vom Ende der Welt.