Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) hat den jüngsten Vorstoß von EU-Ratspräsident Donald Tusk, der in einem Schreiben die verpflichtende Flüchtlingsumverteilung in der EU als "höchst spaltend" und "unwirksam" bezeichnet hatte, scharf kritisiert. "Das grundsätzliche Denken, das in dem Brief zum Ausdruck kommt, lehne ich im höchsten Maße ab", sagte Kern am Donnerstag im Vorfeld des EU-Gipfels.

Die Formulierung Tusks, so der Bundeskanzler weiter, sei - freundlich formuliert - "sehr unverständlich gewesen". Der EU-Ratspräsident habe in seinem Einladungsbrief für den Gipfel auch geschrieben, dass "die Länder das machen" müssten, sagte Kern, und er fügte hinzu: "Ich sehe das anders, entweder wir lösen da Problem gemeinsam, oder es ist unlösbar." Dass die verpflichtenden Quoten damit ein Ende haben könnten, glaubt der Sozialdemokrat nicht.

Tusk hatte für Aufregung gesorgt, als er im Einladungsschreiben an die Staats- und Regierungschefs von einer ineffizienten Flüchtlingsverteilung gesprochen hatte und verpflichtende Quoten in Frage stellte. Dies löste einen Sturm der Entrüstung seitens der EU-Kommission sowie des Europaparlaments aus. Vor Beginn des EU-Weihnachtsgipfels Donnerstag in Brüssel überschattete die Auseinandersetzung um die Flüchtlingsquoten und den Umgang mit der Migrationsfrage das Treffen.  Während die Vertreter der vier Visegrad-Staaten die Tusk-Aussagen begrüßten, gab es neben Kern auch von der deutsche Kanzlerin Angela Merkel Kritik.

Zu der Zahlung der Visegrad-Staaten (Ungarn, Tschechien, Polen, Slowakei) in den EU-Afrikafonds erklärte Kern, dass man Geld brauchen werde. Aber man könne sich nicht mit 35 Millionen Euro aus einem Beschluss "freikaufen", betonte der Bundeskanzler in Anspielung auf die Ablehnung der Visegrad-Staaten gegenüber den verpflichtenden EU-Flüchtlingsquoten. Da würden "grundsätzliche Spielregeln" der Solidarität gelten. Beim nächsten Mal könnte es nämlich vielleicht passieren, dass Nettozahler ein anderer Beschluss nicht interessiere.

Beim Brexit wiederum zeigte sich die Einigkeit der 27 gegenüber Großbritannien. May selbst gab sich beim Eintreffen im Ratsgebäude eher zurückhaltend und zahm. Sie meinte, dass die Briten ihre Verantwortung in Sicherheitsfragen auch nach dem Brexit nicht ablegen werden. Großbritannien werde die EU verlassen, aber nicht seine Verantwortung beim Sicherheitsthema aufgeben. Ausweichend zeigte sie sich auf die Frage nach weiteren Kompromissen der Briten. Sie meinte lediglich, Großbritannien habe gute Fortschritte in der Finanzfrage - also dem Austrittsgeld - gemacht.

Für die Einleitung der zweiten Phase der Brexit-Verhandlungen, in denen es um die künftigen Beziehungen der EU zu Großbritannien geht, dürfte der Gipfel jedenfalls am morgigen Freitag grünes Licht geben. Merkel sprach von "guten Chancen" für die Phase zwei.

In der Sitzung am Donnerstag geht es auch noch um die Verlängerung der Russland-Sanktionen und um die feierliche Würdigung des den Beschlusses zur "Permanenten Strukturierten Zusammenarbeit" in Verteidigungsfragen (PESCO).