Nach wochenlangen Verhandlungen haben die deutschen Liberalen kurz vor Mitternacht die Jamaika-Sondierungen abgebrochen und damit eine politische Krise in Deutschland ausgelöst. "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren", sagte FDP-Parteichef Christian Lindner am späten Sonntagabend in Berlin. "Den Geist des Sondierungspapiers können und wollen wir nicht mitverantworten."

CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel, CSU-Chef Horst Seehofer wie auch die Grünen-Spitze bedauerten die Entscheidung. Merkel sagte, sie werde Deutschland auch als geschäftsführende Kanzlerin durch schwierige Wochen führen. Die Grünen erhoben schwere Vorwürfe gegen die FDP, die ein Scheitern offenbar schon länger geplant hätten. Der Euro gab in Fernost leicht nach.

Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierung ist völlig offen, wie eine Regierungsbildung weiter verlaufen könnte. Die SPD hatte in den vergangenen Tagen immer wieder betont, dass sie nicht für die Bildung einer neuen Großen Koalition zur Verfügung stehe. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wiederum hatte die Parteien in Deutschland an die Verantwortung erinnert, eine Regierung zustande zu bringen.

SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles sagte am Abend im ZDF: "Die Große Koalition wurde ganz klar abgewählt." Dass die SPD in die Opposition gehe, sei "keine Schmollreaktion". Sie betonte zudem: "Unser Auftrag ist es, dass wir wieder Mehrheiten kriegen für Koalitionsbildungen, die wieder besser zusammenpassen." Sie jedenfalls freue sich auf die Rolle der Opposition. Auch SPD-Vize Ralf Stegner bestätigte, dass die SPD nicht für eine Regierungsbeteiligung zur Verfügung stehe.

Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung

Bleiben die Sozialdemokraten bei ihrer Aussage, gäbe es wohl als Alternativen nur Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung. Theoretisch wäre auch ein zweiter Anlauf der Jamaika-Sondierer nach einer Abkühlphase denkbar. Derzeit ist Kanzlerin Merkel bis zur Bildung einer neuen Regierung geschäftsführend im Amt.

Grünen-Politiker Jürgen Trittin sprach von der Gefahr, dass Deutschland nun längere Zeit eine geschäftsführende Regierung haben könnte. Eine Minderheitsregierung von Union und Grünen schloss er aus: "Deutschland muss stabil regiert werden, und dafür bedarf es einer Mehrheit im Parlament", sagte Trittin im ZDF. "Wenn die komplette Politikverweigerung der SPD anhält, weiß ich nicht, wie eine Mehrheit zustande kommen könnte."

Unklar war in der Nacht auch, wie sich die Entwicklung auf den Machtkampf in der CSU auswirkt. Dabei geht es um die Frage, wer die CSU in den bayerischen Landtagswahlkampf 2018 führt. "Es ist schade, dass es am Ende nicht gelungen ist, dies zum Ende zu führen, was zum Greifen nahe war", sagte CSU-Chef Seehofer, der Merkel ebenso wie die Grünen dafür dankte, dass sie in den Verhandlungen einen Kompromiss gesucht habe. Er selbst habe mit einem positiven Sondierungsergebnis gerechnet. Auch Grünen-Chef Cem Özdemir sagte: "Wir waren zu dieser Verständigung bis zur letzten Sekunde bereit."

CDU, CSU, FDP und Grüne hatten am Sonntag einen letzten Versuch unternommen, sich auf die Grundzüge eines gemeinsamen Regierungspapiers zu einigen. Unions-Politiker äußerten sich am Abend noch optimistisch, dass eine Einigung gelingen könnte. Aber dann trat Lindner zusammen mit der Führungsspitze der Liberalen vor die Kameras.

In den vergangenen Wochen war immer wieder spekuliert worden, ob die FDP die Verhandlungen würde platzen lassen. Hintergrund war die Vermutung, dass Lindner seine Partei lieber in die Opposition führen würde. Der FDP-Chef kritisierte dagegen nach dem Abbruch der Gespräche, allen Parteien seien sich der Dramatik der Situation bewusst gewesen - und dennoch habe es keine ausreichenden Zugeständnisse gegeben. Die FDP sei für "Trendwenden" gewählt worden. Die Liberalen hatten bei der Bundestagswahl 10,7 Prozent der Stimmen erhalten.

Flüchtlingspolitik als Streitpunkt

Einer der Kernstreitpunkte in den Sondierungen war auch am Sonntag die Flüchtlingspolitik gewesen. Die Union beharrte auf einer Begrenzung der Zuwanderung und wollten einen Richtwert einer maximalen Nettozuwanderung von 200.000 Personen aus humanitären Gründen pro Jahr. Die Grünen pochten dagegen darauf, dass der Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus nach März 2018 freigegeben wird. Dies lehnten sowohl CDU, CSU und FDP ab.

Grünen-Politiker Trittin nahm CDU und CSU ausdrücklich in Schutz, die bis zuletzt versucht hätten, eine Einigung herbeizuführen. Trittin warf der FDP vor, absichtlich ein Scheitern herbeizuführen. Das Finanzpapier sei bereits vereinbart gewesen.

Diese Szenarien sind nun denkbar

GROSSE KOALITION: Eine schwarz-rote Koalition ist rechnerisch möglich. Theoretisch könnten CDU, CSU und SPD also Verhandlungen aufnehmen. Die SPD ist aber nicht bereit für eine Neuauflage der "GroKo". Am vergangenen Freitag schloss die SPD-Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles eine Große Koalition erneut aus. Auch Parteichef Martin Schulz sieht die SPD nur in der Opposition.

FAZIT: NAHEZU AUSGESCHLOSSEN.

MINDERHEITSREGIERUNG: Einer möglichen Koalition aus CDU/CSU und FDP fehlen 29 Sitze zur Mehrheit im Bundestag. Schwarz-Gelb müsste also bei Abstimmungen auf Stimmen aus den anderen Fraktionen hoffen. Das Gleiche gilt für Schwarz-Grün; hier fehlen 42 Sitze zur Mehrheit. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) ist jedoch keine Freundin wechselnder, unsicherer Mehrheiten. Eine Minderheitsregierung hat es nach einer Bundestagswahl auch noch nie gegeben, eben weil sie so riskant ist.

FAZIT: UNWAHRSCHEINLICH.

NEUWAHLEN: Der Weg zu einer Neuwahl ist verschlungen - weil es die Verfassung so will. Vor eine Neuwahl unter den aktuellen Umständen hat das Grundgesetz nämlich die Kanzlerwahl gestellt.

Der Bundespräsident muss zunächst jemanden für das Amt des Bundeskanzlers vorschlagen. Diese Person wird Kanzler(-in), wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages für sie stimmen ("Kanzlermehrheit"). Bisher wurden alle Kanzler der Bundesrepublik in diesem ersten Wahlgang gewählt.

Findet der Vorschlag des Bundespräsidenten keine Mehrheit, beginnt die zweite Wahlphase. Der Bundestag hat jetzt zwei Wochen Zeit, sich mit absoluter Mehrheit auf einen Kanzler zu einigen. Die Zahl der Wahlgänge ist nicht begrenzt, ebenso wenig die Zahl der Kandidaten. Dem Bundestag steht es also frei, die zwei Wochen ungenutzt verstreichen lassen - oder etwa fünfzehn Mal zu versuchen, einen Kandidaten zu wählen.

Kommt auch in diesen zwei Wochen keine Kanzlermehrheit zustande, beginnt die dritte Wahlphase. In diesem letzten Wahlgang reicht schon die relative Mehrheit. Gewählt ist also, wer von allen Kandidaten die meisten Stimmen gewinnt.

Nun muss wieder der Bundespräsident handeln. Wird jemand nur mit relativer Mehrheit gewählt, kann der Bundespräsident sie zur Kanzlerin oder ihn zum Kanzler einer Minderheitsregierung ernennen - er kann aber auch den Bundestag auflösen. Innerhalb von 60 Tagen muss es dann Neuwahlen geben.

FAZIT: WAHRSCHEINLICH.