Gibt es Parallelen zwischen den aktuellen Separationsbestrebungen in Katalonien und in Bosnien?

VALENTIN INZKO: Milorad Dodik von der Republika Srpska sieht sehr wohl Parallelen. Und es ist auch so, dass Katalonien jetzt zeigt, wie der Mechanismus funktioniert. Und das interessiert Dodik sehr.

Könnte es europaweit zu einem Domino-Effekt kommen?

INZKO: Sollte es in Katalonien zu einer Abspaltung kommen, werden die Wellen hochgehen; auch zwischen den Serben in Banja Luka und den Bosniaken in Sarajevo. Das ist zu befürchten. Durch den Vertrag von Dayton ist eine Separation nicht möglich, und ich als Hoher Repräsentant wache darüber, dass Bosnien zusammenbleibt, mit der internen Aufteilung, die wir haben.

Als sich vor einem Vierteljahrhundert Bosnien unabhängig erklärt hat, war die Welt auf der Seite der Bosnier. Wieso finden die Katalanen weniger Fürsprecher?

INZKO: Die EU entscheidet als Block, ich sehe nicht, dass Staaten da einen Soloauftritt planen, denn da ist die Angst vor Folgewirkungen tatsächlich groß. Sympathien gibt es aber wohl, denke ich, aber die werden nicht auf politischer Ebene mitgeteilt, sondern in den NGOs, informell, und in der Gesellschaft. Es gibt ja schon ganze Mappen mit Regionen in Europa, die sich abspalten wollen, auch Südtirol ist immer wieder darunter. Aber es gibt auch die Furcht vor unabsehbaren Folgen, wenn jemand die Lawine lostritt.

Muss sich Europa darauf einstellen, ein Europa der Regionen zu werden?

INZKO: Ich bin ja ein großer Befürworter dieser Theorie - allerdings ohne dabei die Grenzen zu ändern. Denn es ist doch natürlich, dass Nordtirol mit Südtirol zusammenwächst, Herzegowina mit Dalmatien, aber eben ohne Grenzänderung. Es geht um ein regionales, kulturelles, wirtschaftliches Zusammenwachsen.

Was treibt Regionen dazu, sich abspalten zu wollen?

INZKO: Das eine sind sicher wirtschaftliche Überlegungen, die Steuern, kulturelle Hintergründe. Dazu kommt, dass die Zentralregierung oft weit weg ist. Das war in der österreichisch-ungarischen Monarchie nicht anders. Man fühlt sich verlassen. Spannend an Katalonien ist ja, dass es offen für andere ist: für Spanier, Afrikaner, EU-Bürger, Katalonien sagt keineswegs: Katalonien nur den Katalanen. Im Gegenteil heißt es: Jeder ist willkommen.

Südtirols Landeshauptmann Arno Kompatscher
Südtirols Landeshauptmann Arno Kompatscher © APA/EXPA/GRODER

Für die EU ist der Katalonienkonflikt eine innerspanische Auseinandersetzung. Wäre ein Eingreifen der EU notwendig?

ARNO KOMPATSCHER: Natürlich tut auch die EU gut daran, auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit zu pochen. Verfassung schützt auch Minderheiten.

Das ist die rechtliche Ebene ...

KOMPATSCHER: Die politische darf man aber nicht aus den Augen verlieren. Das jetzt ist das Ergebnis nach einem langjährigen Stillstand, nachdem der Verfassungsgerichtshof die ausverhandelte Autonomie 2010 gekippt hat. Es gab keinen Dialog, und dieser Stillstand war für viele Katalanen frustrierend. Das hat zu dieser Verzweiflungstat geführt.

Könnte Südtirol ein Modell oder zumindest Beispiel sein, wie man aus dieser verfahrenen Situation herauskommt?

KOMPATSCHER: Südtirol kann nicht Modell sein. Die Situation unterscheidet sich aufgrund der Tatsache, dass es für die Südtiroler Autonomie eine völkerrechtliche Grundlage gibt.

Es war ja ein jahrelanger Prozess dorthin.

KOMPATSCHER: Es war kein innerstaatlicher Prozess, das war sicher ein Vorteil bei den Verhandlungen. Man konnte sich auf UN-Resolutionen berufen. Das haben die Katalanen nicht, sodass sie am Ende keinen Ausweg sahen. Klar ist: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker ist kein unmittelbares Recht auf die Ausrufung der Abspaltung oder Sezession. Das wird auch vom Völkerrecht nicht so interpretiert. Wenn das Recht an seine Grenzen stößt, ist Politik gefragt. Es braucht den Dialog für eine weitere Entwicklung der katalanischen Autonomie.

Schadet es den starken Regionen Europas wie Südtirol, wenn Katalonien vorprescht und sich unabhängig erklärt?

KOMPATSCHER: Unter Umständen ist es ein Bärendienst, wenn man jetzt versucht, mit der Brechstange, durch ein einseitig ausgerufenes Referendum, das verfassungswidrig durchzudrücken. Das könnte zum Erstarken der nationalstaatlichen Idee führen im Glauben, es braucht keine Sonderregelungen und Autonomie. Das Gegenteil ist der Fall: Um den vielfach in Europa vorhandenen Tendenzen der Abspaltung entgegenzuwirken, braucht es eben genau das: Föderalismus, eine Aufwertung der Regionen und gleichzeitig mehr Europa.

Aber keine neuen Nationalstaaten?

KOMPATSCHER: Das kann nicht die Lösung sein, denn das erzeugt neue Minderheiten.