Beifall und Zwischenrufe, wie etwa in Österreich, sind im britischen Unterhaus nicht erlaubt. Allerdings dürfen die Abgeordneten mit gerauntem „Hear, hear“, „Aye“ (Ja) oder „No“ (Nein) Zustimmung oder Ablehnung signalisieren. Was nicht weniger skurril klingt.

Viel „Aye“ wird es heute im Unterhaus nicht geben. Premierministein Theresa May geht nach der von ihr vom Zaun gebrochenen und schlecht geschlagenen Unterhauswahl vom Juni geschwächt ins Rennen um ihr Vorhaben, die wichtigste Brexit-Vorlage, die sogenannte Great Repeal Bill, das Große Aufhebungsgesetz, durch das Parlament zu bringen.

Die britische Labour-Partei hat bereits beschlossen, gegen die im Sommer still in EU Withdrawal Bill (Rückzugsgesetz) umbenannte Vorlage zu stimmen. Labour-Chef Jeremy Corbyn sieht die Arbeitnehmerrechte gefährdet, den Verbraucher- und Umweltschutz. Er kritisiert, die britische Regierung wolle sich mit dem Gesetz die Vollmacht geben, ohne Zustimmung des Parlaments Vorschriften ändern zu können. In Anlehnung an den einstigen englischen König wird von einer Heinrich-VIII.-Klausel gesprochen, die der Regierung fast absolutistische Macht ermöglicht. Auch einige Tories leisten Widerstand.

Die Rechtslage nach dem Tag X


Dennoch: Die Great Repeal Bill „ist absolut notwendig“, sagt die britische Politologin Melanie Sully, „sonst gibt es am Tag nach dem Ausstieg aus der EU keine Rechtssicherheit.“ In Wahrheit gehe es auch nur darum, das EU-Recht, salopp formuliert, erst einmal abzuschaffen, um es nach Prüfung in variierter Form wieder einzusetzen. „Ausschneiden, Einfügen. Es ist allerdings das größte Ausschneiden und Einfügen von Gesetzen in der parlamentarischen Geschichte“, erläutert die Politologin. Mehr als 20.000 Gesetze müssen geprüft, geändert oder aufgehoben werden, damit Großbritannien nach dem Tag X juristisch nicht in ein schwarzes Loch fällt. Arbeit für Tausende Juristen ist garantiert.

Schottland, Nordirland, Wales


„Doch da sind auch noch Schottland, Nordirland und Wales, die stark eingebunden sind in den Komplex für Agrarpolitik, Fischerei, etc.“, sagt Sully, „und die wollen gar nichts abschaffen, weil sie hoffen, dass sie irgendwann als unabhängiges Land der EU beitreten können.“
Tatsächlich könne derzeit niemand wirklich beurteilen, welche Gesetze abgeschafft werden dürfen, denn letztlich stehe und falle alles mit dem Austrittsabkommen. In Brüssel geht es mit den Brexit-Verhandlungen aber erst am 18. September wieder weiter.


In London verstärkte sich zuletzt der Eindruck, dass Brüssel nur Scheinverhandlungen führe. Und in Brüssel ist man sauer, dass Großbritannien nach dem Brexit die Einwanderung von EU-Bürgern beschränken will, wie es in einem 82-seitigen Dokument heißt, das jetzt der britischen Tageszeitung „The Guardian“ zugespielt wurde.
„Großbritannien leidet unter der Ungewissheit, wie es weitergeht, die Währung litt zuletzt dramatisch. Die Brexit-Verhandlungen müssen auf beiden Seiten vorangetrieben werden“, fordert Politologin Sully, „denn das Ausharren in der Ungewissheit ist nicht gut für Großbritannien – aber es ist auch nicht gut für die EU."