In Luxemburg tritt heute der Europäische Gerichtshof (EuGH) zusammen, um in einer brisanten Causa zu befinden: Hat der Flüchtlings-Massenansturm des Spätsommers 2015, als sich über eine Million Menschen aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und anderswoher über den Balkan auf den Weg in die EU machten, die europäischen Asylregeln außer Kraft gesetzt? Es geht also um das Dublin-System. Dieses könnte per Gerichtsurteil quasi außer Kraft gesetz werden.

Das Urteil hat Sprengkraft, nicht nur weil die Luxemburger Richter der Willkommenspolitik von Deutschlands Angela Merkel nachträglich ihren Sanktus erteilen könnten. Sondern weil es die Frage berührt, ob das Dublin-Abkommen, das die Aufnahme von Flüchtlingen in Europa regelt, in der jetzigen Situation überhaupt noch ein taugliches Instrument darstellt.

Es geht also einmal mehr um die Frage einer gerechten Verteilung von Flüchtlingen in der EU und damit um einen Streit, der Europa spaltet – und das zu einem Zeitpunkt, da der Wahlkampf in Österreich und Deutschland voll entbrannt ist.

Eigentlich sind es zwei Fälle, über die der EuGH zugleich entscheidet, der eine aus Österreich, der andere aus Slowenien. In beiden Fällen geht es um Asylanträge, für die sich die Behörden der zwei Länder für unzuständig erklärten, da die Flüchtlinge, die um Schutz ansuchten, nicht in Slowenien und Österreich zum ersten Mal den Boden der EU betreten hatten.

Dem Dublin-Regime zufolge ist das Land für die Prüfung des Asylantrags zuständig, in dem ein Schutzsuchender in die Europäische Union gelangt ist. Voraussetzung dafür, dass "Dublin" angewendet werden kann, ist, dass die Einreise illegal erfolgte.

Fallbeispiel

Im Fall der zwei Schwestern Khadija und Zainab Jafari, die mit ihren Kindern vor den Taliban aus Afghanistan 2015 über den Balkan nach Österreich flohen, war das EU-Einreiseland eigentlich Griechenland. Sie waren von dort aber über Mazedonien, Serbien, Kroatien (wo sie erneut EU-Raum betraten) und Slowenien nach Österreich weitergereist, wo sie um Asyl ansuchten. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl beschied jedoch, dass Kroatien für die Prüfung der Asylanträge zuständig sei, da Griechenland wegen systemischer Mängel im Asylverfahren ausfalle. Sowohl die Einreise nach Griechenland als auch die nach Kroatien sei – so die Behörde – illegal erfolgt.

Dem traten die Schwestern Jafari entgegen. Ihr Grenzübertritt nach Kroatien sei keinesfalls unrechtmäßig gewesen, sondern aus „humanitären Gründen“ gestattet worden.

Dem schloss sich die Generalanwältin am EuGH, Eleanor Sharpston, an. Die Britin vertrat in ihren Schlussanträgen zum Fall der Schwestern Jafari und zur ähnlich gelagerten Geschichte eines Syrers in Slowenien den Standpunkt, dass tatsächlich kein illegaler Grenzvortritt vorliege, wenn Staaten mit einer EU-Außengrenze infolge eines Massenansturms den Flüchtlingen die Durchreise nicht nur gestattet, sondern diese für sie sogar organisiert hätten.

Die Europarichter sind nicht verpflichtet, den Empfehlungen der Anwältin zu folgen. Aber sie tendieren in der Regel dazu. Tun sie es auch diesmal, könnte das für die EU-Flüchtlingspolitik gravierende Folgen haben. Migranten, die bis zur Schließung der Balkanroute nach Österreich durchgewinkt wurden, könnten nicht mehr unter Berufung auf Dublin abgeschoben werden. Das Abkommen wäre ausgehebelt. Und auch im Verteilungsstreit könnten die Karten neu gemischt werden. So hat Italien in einer Stellungnahme an den EuGH bereits festgehalten, dass Migranten, die die italienische Marine aus dem Mittelmeer rettet, nicht länger als illegal Eingereiste eingestuft werden könnten.